© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/11 / 21. Oktober 2011

„Alt, stur, egoistisch“
Protestkultur: Eine Studie stellt den vielbeschworenen „Wutbürgern“ ein wenig schmeichelhaftes Zeugnis aus
Michael Martin

Wut ist immer ein schlechter Ratgeber“, besagt eine alte Weisheit. Ob dies die sogenannten Wutbürger auch so sehen? In Deutschland ist es derzeit „in“, wütend zu sein. Ob gegen den Bahnhofsbau in Stuttgart, gegen eine Flughafenerweiterung in Frankfurt oder aber gegen die Atomkraft – in den vergangenen Monaten sind Hunderttausende Menschen auf die Straße gegangen, denen man dies so gar nicht zugetraut hätte.

Der Göttinger Politikwissenschaftler Franz Walter und sein Institut für Demokratieforschung haben sich des Themas angenommen und die Fragen gestellt: „Was ist eigentlich ein Wutbürger?“ und: „Was will er?“ Die Antwort ist verblüffend. Gingen alle Forscher bisher davon aus, daß Demonstranten vor allem aufgrund persönlicher Ängste auf die Straße gehen würden, so trifft dies bei den „Wutbürgern“ offenkundig nicht zu. Walter und seine Mitarbeiter haben vor Ort recherchiert und bei den Demonstrationen gegen das Bahnhofs-projekt „Stuttgart 21“ Flugblätter mit dem Aufruf verbreitet, sich an einer Online-Umfrage zu beteiligen. Später fand sich das Formular auch auf einer Seite der Projektgegner. Die Ergebnisse sind eindeutig: Mehr als 75 Prozent der befragten „Wutbürger“ sind mit ihrer eigenen beruflichen und sozialen Situation zufrieden. Der typische Vertreter dieser Spezies ist außerdem über 50 Jahre alt, männlich und hat einen Universitätsabschluß. Er ist materiell gut situiert, hadert aber mit der Lage im Land.

Allerdings war er bislang nicht unbedingt als „revolutionär“ bekannt. So haben zwar nur 15 Prozent der Befragten angegeben, die Beteiligung an den Demonstrationen gegen „Stuttgart 21“ sei ihre erste Protesterfahrung gewesen, allerdings haben fast 60 Prozent der Befragten ausgesagt, sie würden sich nicht regelmäßig an außerparlamentarischen Aktivitäten beteiligen. Dies scheint einen guten Grund zu haben. Walter schließt nämlich aus seinen eigenen Zahlen, daß die „Wutbürger“ vor allem dann aktiv werden, wenn ihre Interessen tangiert werden. „Die umtriebigen Wortführer gegen Flughafenausbau, Windräder und Oberleitungen sind in bemerkenswert großem Umfang (über 90 Prozent) Grundstückseigentümer und Hausbesitzer“, sagte Walter Spiegel Online. Überhaupt sind die Schlüsse, die er und seine Mitarbeiter aus der Umfrage ziehen, wenig schmeichelhaft. „Alt, stur, egoistisch“, lautet Walters Fazit über den Wutbürger. Man könnte sie auch Schön-Wetter-Demokraten nennen. Denn 75 Prozent wünschen sich zwar mehr Elemente der direkten Demokratie wie Volksbefragungen, aber nicht jeder von ihnen würde sich gerne an das Ergebnis gebunden fühlen.

30 Prozent der in Stuttgart beteiligten Wutbürger, die an der Umfrage teilgenommen haben, bezeichnen sich politisch als „ganz links“. Dies ist zweifelsohne interessant, haben doch die Initiatoren bisher immer gerne davon gesprochen, daß der „Wutbürger“  keinem Lager zuzuordnen sei. Allerdings halten nur 15 Prozent Sachbeschädigungen für eine geeignete Form des Protests. Dies mag auch damit zusammenhängen, daß aktionistische Formen des Protests stets eher eine Sache der Jugend waren. „Die Jahrgänge, die sonst üblicherweise die Basis öffentlicher Empörung bilden, also die der 16- bis 25jährigen, sind nur zu 1,1 Prozent als „Wutbürger“ unterwegs. In der Altersstruktur liegen zudem die größten Differenzen zu den Bürgerinitiativen der siebziger Jahre. Damals dominierten die 25- bis 40jährigen; heute beherrschen Rentner das Bild des Bürgeraufbegehrens, heißt es in der Studie. Überhaupt scheint der Protest im Gegensatz zu früheren Jahren vor allem materiell motiviert zu sein: „Die protestierenden Bürger sorgen sich demnach nicht allein um den Fortbestand rarer Biotope und uralter Bäume, sondern vor allem um den eigenen Wohlstand. Stromleitungen und hohe Windräder gefährden Immobilienwerte“, sagt Walter.

Nach all der zum Teil deutlichen Kritik mußten die Initiatoren aber auch Lob zollen: „Die Wutbürger sind eine intelligente Bewegung. Sie sind hochqualifiziert und sie kennen sich aus. Sie sind nicht einfach nur dagegen, sondern sie bieten auch Verbesserungsvorschläge.“

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