© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/11 / 14. Oktober 2011

Flickwerk-Familien und ihre Leidtragenden
Die Streitschrift der Journalistin Melanie Mühl gegen die „Patchwork-Familie“ / Die schmerzhafte Realität einer gescheiterten Familie soll kaschiert werden
Anni Mursula

Sucht man in einem Textverarbeitungsprogramm nach Synonymen für das Wort Patchwork, werden einem lediglich Makel, Ausschuß und Schrott vorgeschlagen. Doch diese eigentliche Bedeutung des Wortes ist längst in den Hintergrund geraten: Heute läßt uns Patchwork an fröhliche Prominente in Hollywood oder im Berliner Schloß Bellevue denken, die modern, lässig und unkonventionell sind.

„Patchwork ist ein trügerisches Wort“, schreibt Melanie Mühl in „Die Patchwork-Lüge“. Denn während es nett und harmlos klingt, wird gleichzeitig ausgeblendet, daß einer Patchwork-Konstellation zumeist eine private Tragödie vorausgeht. Ein Familienunglück, bei dem vor allem die Kinder die Leidtragenden sind. Auf deutsch bedeutet das Wort Flickwerk. Beim Handarbeiten versteht man darunter das Zusammenfügen alter Stoff- oder Lederreste zu einem neuen Stück. Doch was sich beim Handarbeiten als sinnvoll und nützlich erweist, muß deshalb im wahren Leben noch lange nicht genauso funktionieren. Dennoch wird mit dem Begriff „Patchwork-Familie“ laut Mühl genau das suggeriert. Daß eben das Zusammengeschusterte mindestens genausogut ist wie das Original – oder zumindest „spannender“ und „bunter“ als die herkömmliche, eintönige Familie. Und nebenbei seien die Eltern nun endlich wieder glücklich und die Kinder besser versorgt.

Doch genau das ist das Problem. Denn das Zusammengeflickte wird vor allem für die Kinder immer nur ein Provisorium bleiben: Für sie kann die neue Familie niemals die alte ersetzen. Für die meisten von ihnen sei es völlig irrelevant, in welcher Gefühlslage sich ihre geliebten Eltern gerade befänden – sprich, ob sie nun glücklich in ihrer Ehe sind oder nicht. Hauptsache sie bleiben zusammen. Es gebe zwar auch Ausnahmefälle, so Mühl, aber die Zahl der Familien, in denen die Scheidung wirklich eine Rettung für die Kinder darstelle, beispielsweise wenn sie unter dem Alkoholismus, der Gewalttätigkeit oder sogar Mißhandlungen eines Elternteils gelitten haben, sei äußerst gering.

Aus diesem Grund handle es sich beim Patchwork-Phänomen um eine große Lüge, auf die die ganze Gesellschaft mittlerweile reingefallen sei. Denn die heile Welt, die sowohl in Seifenopern im Fernsehen als auch in seriösen Zeitungen suggeriert würde, diene lediglich der Gewissensberuhigung derjenigen Eltern, die ihre persönliche Entfaltung auf Kosten ihrer Familie betrieben. So würden Wörter wie „quality time“ und „Bonuseltern“ erfunden, um die schmerzhafte Realität einer gescheiterten Familie zu kaschieren. Solche Begriffe „führen uns vor Augen, wie erfinderisch wir geworden sind, wenn es darum geht, unser Gewissen zu beruhigen“, schreibt Mühl.

Heute würde vieles zurechtgebogen, um moralisch akzeptabler zu wirken. So sei eben auch die Patchwork-Familie nur das Ergebnis gesellschaftlicher Veränderungen, hinter denen vor allem ein Verlust an Werten und die Überbetonung der Freiheit des Individuums steckten. Melanie Mühl rechnet hart mit dem zunehmend egoistischer werdenden Zeitgeist ab, für den sie nicht zuletzt die Medien verantwortlich macht. Unter ihren Journalistenkollegen (deren Scheidungsrate überdurchschnittlich hoch ist) stößt die FAZ-Redakteurin damit nicht unbedingt auf Sympathie: Fast alle Rezensionen des Buches sind negativ. „Einfach ein Farce“, schrieb beispielsweise Welt-Online. Das Buch habe „zu wenig mit dem eigentlichen Leben“ zu tun.

Doch die schlechte Rezeption bestätigt nur Mühls These: Die Gesellschaft glaubt bereits an ihre eigenen Lügenkonstruktionen. Zum Beispiel daran, daß jeder machen kann, was er will – und daß dies doch auch „gut so“ sei. Dabei geht es bei der Verklärung der Flickwerk-Familien um mehr als nur um ein paar schwache Scheidungskinder, die der „Herausforderung“ einer neu zusammengewürfelten Lebensgemeinschaft nicht gewachsen sind. „Wir sprechen über nicht weniger als den Zusammenhalt unserer Gesellschaft“, warnt Mühl. Schließlich würden aus den Kindern irgendwann Erwachsene, die dann das psychische Profil einer ganzen Generation prägten.

Melanie Mühl: Die Patchwork-Lüge. Eine Streitschrift. Hanser Verlag, München 2011, gebunden, 176 Seiten, 16,90 Euro

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