© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/11 / 14. Oktober 2011

Italiens blutige Illusion
Vor genau 100 Jahren begann Roms Kolonialherrschaft über Libyen / Stumme Zeugen des gewalttätigen Abenteuers sind noch heute allgegenwärtig
Billy Six

Mitten im Nichts. Kholan – ein winziges Dorf der ostlibyschen Cyrenaika. Die „Grünen Berge“ sind vorbei. Und die weite Sandwüste hat noch nicht begonnen. Aber selbst an diesem verlassenen Ort haben sie ihre Spuren hinterlassen: Die italienischen Besatzer, die Libyen von 1911 bis 1943 zu beherrschen suchten. Plötzlich gab es hier eine Straßenverbindung in die Städte. Geld! Und ein Wahrzeichen: Die mächtige Kasernenburg hoch auf dem kahlen Berg, wo zuvor nur kleine türkische Hütten zu sehen waren. Keine selbstlosen Segnungen aus Rom, sondern Teil eines verzweifelten Traumes, die italienische Herrschaft in Nordafrika zu konsolidieren.

Es beginnt vor genau einhundert Jahren am Vorabend des Ersten Weltkriegs, im Herbst 1911. Großbritannien und Frankreich haben Weltreiche aufgebaut. Italien dagegen ist wie Deutschland eine „verspätete Nation“. Vor ihrer Haustür erleben die Nachfahren des einst allmächtigen Römerimperiums, wie andere ihre Gebiete abstecken. Algerien, Tunesien, Marokko – die neuen Kolonien Frankreichs. Ägypten, Malta und das Heilige Land – unter der Regentschaft Ihrer Majestät in London. Der Halbinselstaat möchte nicht im „eigenen Meer“ wie „in einem Sack“ stecken und ersticken, wie es Mussolini später einmal formulieren wird.

Dabei ist der spätere „Duce“ zu Anfang als bekennender Sozialist ganz und gar gegen ein Invasionsabenteuer auf der anderen Seite des Mittelmeeres. Ausgerechnet eine Mitte-Links-Regierung unter Vorsitz des Liberalen Giovanni Giolitti gibt den Angriffsbefehl. Am 29. September 1911 erklärt Italien dem Osmanischen Reich den Krieg, das fast vier Jahrhunderte mal mehr und mal weniger einflußreich die Regentschaft über Libyen ausgeübt hat. Über die Palette an Gründen darf spekuliert werden: strategische Erwägungen, Ablenkung von innenpolitischen Querelen oder auch nur die Umleitung der massiven Auswanderungswelle gen Amerika in die nächste Nachbarschaft.

Vor allem aber die sich bietende Möglichkeit reizt zum Handeln. Der „kranke Mann vom Bosporus“ ist nur noch ein Abglanz einstiger Größe und kämpft an allen Fronten um sein überdehntes Großreich. Und die italienische Presse ist Feuer und Flamme: eine Prise Nationalromantik in einem immer noch bitterarmen und industriell bis auf wenige Gebiete im Norden zurückgebliebenen Land.

Die großen Küstenstädte Tripolis, Bengasi und Tobruk halten den Seeangriffen nicht lange stand. In nur zwei Wochen fallen sie an die 40.000 italienischen Soldaten. Ein Blitzkrieg? Nur scheinbar: Uralte Konflikte zwischen arabischen Familienstämmen, Berbern und den formal regierenden Türken werden begraben. Der äußere Feind eint! Zur Überraschung der Invasoren kommt es bereits am 23. Oktober 1911 wieder zu einer blutigen Auseinandersetzung: Wenige Kilometer außerhalb von Tripolis sterben 500 italienische Soldaten bei einem Gegenangriff. Der Schock sitzt tief – und die Wut auch. Mit massiver Gewalt geht die angehende Kolonialmacht gegen vermeintliche „Verräter“ vor. 4.000 Männer und 400 Frauen werden hingerichtet – und noch einmal so viele auf italienische Insellager verschleppt. Doch damit nicht genug: Um den Sultan von Konstantinopel zum Einlenken zu zwingen, eskalieren die Italiener den Krieg.

Zum ersten Mal in der Geschichte werden Bomben aus der Luft abgeworfen. Vor den Küsten der heutigen Staaten Albanien (29. und 30. September 1911), Jemen (7. Januar 1912) und Libanon (24. Februar 1912) werden türkische Schiffe versenkt. Am Ende wird das türkische Kernland selbst ins Visier genommen – und im Mai 1912 mehrere Ägäis-Inseln wie Rhodos erobert. Die Verluste der Osmanen wecken das Verlangen der Balkanvölker auf nationale Eigenständigkeit – ein geographisch näheres und politisch weitaus gefährlicheres Terrain für das Sultanat. Die Prioritätensetzung wird zum eigentlichen Grund für die Kapitulation – Libyen fällt mit dem Friedensvertrag von Ouchy am 18. Oktober 1912 offiziell an Italien.

Zum zweiten Male scheint der Sieg zum Greifen nahe. Doch die einheimische Bevölkerung setzt ihren Guerillakrieg fort. Im Sommer 1915 sind die italienischen Streitkräfte wieder bis auf die Hafenstädte Tripolis, Khoms, Bengasi und Tobruk zurückgedrängt. Erst mit dem Ende des Weltkriegs 1918 und der Machtergreifung Mussolinis 1922 wendet sich das Blatt endgültig. Der einstige Gegner des Libyen-Abenteuers ist nun der Auffassung, daß „eine überbevölkerte Nation ohne Bodenschätze ein natürliches Recht besitze, Kompensationen in Übersee zu suchen“, am besten jenseits des „Mare Nostrum“, des Mittelmeers. Statt Unterwerfung steht nun die Verdrängung der arabischen Stämme an der Tagesordnung. 100.000 halbnomadische Bewohner der Cyrenaika werden in Konzentrationslager verbannt – Hunderte Kilometer entfernt in der Wüste.

Genauso viele Italiener siedeln sich fortan im Küstenbereich Libyens an. Doch der Traum von der „alten Heimat“, einer fruchtbaren mediterranen Landschaft aus dichten Olivenbäumen und saftigen Weinstöcken trifft nur auf wenige Gebiete zu – wie die „Grünen Berge“ im Nordosten. Hier, zwischen Buschwerk und Felsen, kann der Widerstand um Rebellenführer Omar al Mukhtar bis 1931 erfolgreich operieren. Festnahme und Hinrichtung des 69jährigen „Löwen der Wüste“ machen ihn schließlich unsterblich: Mukhtar, heute auf dem 20-Dinar-Schein abgebildet, ist auch im Bürgerkrieg 2011 das Idol beider Seiten. Im gleichnamigen legendären Historienfilm, mit Anthony Quinn in der Hauptrolle, spricht Brigadegeneral Rodolfo Graziani dem Aufmüpfigen ins Gewissen: Mit Blick auf die historischen Ruinen von Sabratha und Leptis Magna hätten seine Leute das Recht, in Libyen zu siedeln. Mukhtar läßt sich auf keine Kompromisse ein – er stirbt am Galgen. 

Luftangriffe, KZs und selbst Giftgas – sie bleiben nicht Mussolinis einzige Waffen. Das deutsche Werk „Wetterzonen der Weltpolitik“ von Walther Pahl aus dem Jahr 1937 gibt einen Einblick in die wenigen friedlichen Jahre der Kolonialzeit. „Die libysche Reise Mussolinis im März 1937 stand ganz im Zeichen des faschistischen Willens zu einer aktiven Islampolitik, im Zeichen der Sympathiekundgebungen für den Islam und die Mohammedaner des italienischen Imperiums. Man feierte Mussolini als Schirmherrn des Islam.“ Jener Befehlshaber, der noch bis vor kurzem einen jahrelangen Vernichtungsfeldzug gegen die Libyer mit etwa 100.000 Toten angeführt hat, verkauft sich nun als Hüter des „Schwerts des Islam“.

Foto: Libysche Rebellen feiern 2011 italienische Unterstützung gegen Gaddafi, Omar Mukhtars Grab in Suluk, in der libyschen Wüste abgeschossen italienischer Panzer von 1931 (obere Reihe v.l.n.r.); Omar Mukhtar, Bengasi während der italienischen Kolonialzeit um 1920, italienische Provinzgouverneure mit Omar Mukhtar (l.)1929, Mussolini-Denkmal in Tripolis 1941 (unten v.l.n.r.): Die verspätete Kolonialmacht

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