© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/11 / 14. Oktober 2011

Geschwätz statt Gebet
Selbstherrlich: Martin Walsers Roman „Muttersohn“
Sebastian Hennig

Der Bedeutungswandel der Worte spiegelt den Verfall der Sitten. Der Muttersohn fristet heute nur noch als abfälliges „Muttersöhnchen“. Die glückliche Mischung einer vom Gott berückten irdischen Jungfrau bewirkte einst die Halbgötter der griechischen Antike: Sänger und Kämpfer in verleiblichter Göttlichkeit und als den mächtigsten Muttersohn schließlich den Gottessohn Jesus Christus, den Pantokrator.

In Wolframs Epos verbarg Herzeloyde ihren Sohn Parzival in der Waldeinsamkeit, um ihn dem ritterlichen Lieben und Leiden zu entziehen. Der reine Tor des mittelalterlichen Epos ist Vorgänger und Namenspatron von Anton Percy Schlugen, dem jugendlichen Helden von Martin Walsers neuem Roman „Muttersohn“. Seine Persönlichkeit läßt ihn zu einer Quelle des Heils für seine verstörten Mitmenschen werden. Er führt die Patienten der Psychiatrischen Klinik per „Schlafsacktherapie“ mit Mystikerworten aus der Medikamentenhölle ins Licht der Erkenntnis, predigt unbeholfen und doch berückend aus dem Stegreif. Für ihn gelten die Paulus-Worte: „Wenn ich schwach bin so bin ich stark.“ Ob sie auf seinen Erfinder in diesem Fall auch zutreffen, steht allerdings auf einem anderen Blatt.

Als Martin Walsers Tagebücher erschienen, wurden sie als eine „Fundgrube brillanter Etüden, Miniaturen, Aphorismen“ gewürdigt. Diese Charakterisierung trifft ebenso auf sein neuestes Romanwerk zu. Aber gemessen an den Ansprüchen, die billigerweise an ein solches gestellt werden dürfen, bekommt der eigentlich positive Befund eine andere Perspektive.

Gegen diese Negation hat sich der Autor wiederum verbal mit brillanten aphoristischen Miniaturen gewappnet. Wer möchte beispielsweise jenen „Heruntermachern“ zugerechnet werden, wie sie die letzte Predigt Percys anprangert. Solche Existenzen, die ihre giftige Meinung in den Plural hüllen, um aus diesem Panzer heraus eine singuläre Leistung zu meucheln. Wer möchte sich nachsagen lassen, aus enttäuschter Liebe einem einsam durch das Gebirge des europäischen Nihilismus wandernden Roman vom Rücksitz eines feuilletonistischen Motorrads den Genickschuß verpaßt zu haben.

Ein solcher „Diabolo ex machina“ in Lederjacke ist erforderlich, um das üppig wuchernde Personengeflecht der Erzählung final aufzulösen. Zuvor sind schon mehrere seiner Adoptiv-Väter dem Helden in den Tod vorangegangen. Die erprobte Walsersche Gratwanderung zwischen Erhabenheit und Banalität führt in diesem besonderen Fall auf dem Kammweg zwischen dem Heiligen und der Blasphemie entlang. Kurz vor seinem (Märtyrer-)Tod fleht Percy mit Gethsemane-Pathos: „Laß mich nicht allein.“

Selbstverständlich dürfen die Verlautbarungen von Romanfiguren nicht in jedem Fall als Bekenntnisse des Autors aufgefaßt werden. Aber der Leser dürstet zuletzt doch danach, den ihm im Buch verkündeten Offenbarungen zumindest in der Analogie von ästhetischen Erfahrungen teilhaftig zu werden. Doch er bekommt keinen Zipfel vom Gewand des Höchsten zu fassen, mit dem ihm ständig vor der Nase herumgewedelt wird.

In seinem Verlauf wird das Buch immer mehr zu einer sich selbst widerlegenden Prophezeiung. Der Autor und seine Figuren lösen sich nicht aus ihrer Egozentrik: Sie bleiben Künstlertypen. Aus dem Kloster, das sie als Einsiedler im Geiste um sich erbauen, wird unversehens eine Irrenanstalt. An der anachronistischen Aufgabe, die Klinik wieder von einem Ort der Medizin in eine Stätte des Heils zu verwandeln, scheitern sie. Professor Feinlein und Percy schließen ihre Konspirationen nach einem gemeinsamen Schweigen mit dem lateinischen Verweis auf den höheren Willen: „Tu autem.“

Dabei strotzt das Buch von Selbstherrlichkeit: „Glauben ist eine Fähigkeit. Eine Begabung. Eine Kraft.“ Mit einem doppeldeutigen Hinweis auf die während der Säkularisation ausgeraubten Bücherschränke des Klosters, deren Türen Buchrücken aufgemalt sind, wird die Leere beschworen: „Ich glaube an die Leere, beziehungsweise an gemalte Bücher. Der Rest ist Gebet.“

Von Leere kann keine Rede sein. Ein halbes Tausend Seiten sind angefüllt, ohne erfüllt zu sein. Dieser Kranz von eigensinnigen Selbstgesprächen wird gerechtfertigt durch Wendungen wie: „Der Professor hatte einmal gesagt: Die haben früher nicht für andere gesungen, sondern für sich selbst. Sie fühlten sich erst, wenn sie gesungen haben. So ging es ihm. Er mußte sich in eine Unabhängigkeit von Ewald hineinerzählen, auch wenn er ihn direkt ansprach. Das brauchte er. Für sich.“ Hier nun versteckt sich der Professor hinter einem Plural der Vergangenheit. Dennoch bleibt unverkennbar, daß der Leser von „Muttersohn“ der Strauch ist, an dem der Steinbock seine Hörner reiben will, um sich zu fühlen.

Gleichwohl ist dieser Band mit Erzählungen, deren Grenzen verwischt sind, ohne daß sie sich dadurch zum Roman auswachsen, spannend zu lesen. Da kommt einerseits die Kolportage auf hohem sprachlichen Niveau dem Voyeur im Leser entgegen, und auf der anderen Seite ist das intellektuelle Vergnügen buchenswert, jeder Einzelheit zugleich eine tiefere Bedeutung und einen Zusammenhang zuzuordnen: Die hingebungsvolle musikalische Elsa und die Lohengrin-Musik aus dem Autoradio des Fernsehmenschen. Percy behauptet von sich: „Ich bin geleitet.“ Als „Engel ohne Flügel“ geht er durchs Leben.

Was den fiktiven Menschen geschieht, fesselt den Leser im doppelten Sinne. Der Autor läßt ihn zum Zeugen werden, wo er es ohne das Gefühl peinlicher Indiskretion nicht sein kann. Als würde man Freunde ungerührt beobachten, ohne ihnen beizustehen, während sich der Knoten eines Verhängnisses schürzt. Zuletzt fühlt man sich fast ein wenig mißbraucht. Gute Prosa, die eine ungute Perspektive erschließt. Man steigt auf einen Viertausender, ein Massiv aus konsistenter Sprache, um vom Gipfel eine Deponie zu überblicken. Mutter Fini forscht sich die adligen Wurzeln ihres geliebten Sohnes herbei und meint mit der manischen Erfüllungssehnsucht der Genealogen: „Die Welt ist ein schöner Zusammenhang.“

Dieses Buch als Ganzes ist mehr zusammenhängend als zusammenhaltend. Am dichtesten ist noch der räsonierende Mittelteil „Mein Jenseits“, der bereits einzeln vorab veröffentlicht wurde. Das erwartete Buch über die letzten Dinge ist ausgeblieben. „Muttersohn“ ist nur ein teleologischer Spasmus. Vielleicht ist die heilsame Lösung dieser nervösen Verspannungen dem nächsten Roman vorbehalten, in dem der Leser nicht mehr ein Figurentheater vorgeführt bekommt, sondern im Vollzug des Textes sein Selbst vergißt. Oder das bleibt die Aufgabe eines Autors mit einer anderen seelischen Disposition. Martin Walser scheint an seinem eigenen Geistreichtum zu ermüden und muß selbst darin geistreich bleiben.

Martin Walser: Muttersohn. Rowohlt, Hamburg 2011, gebunden, 512 Seiten, 24,95 Euro

Foto: Martin Walser: Der 84jährige Großschriftsteller scheint an seinem eigenen Geistreichtum zu ermüden

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