© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/11 / 14. Oktober 2011

Plaudertaschen mit Moralkeule
Konformismus als geistige Lebensform: Zu einem „Merkur“-Sonderheft
Alexander Beyer

Konformismus, erklärt der Duden, ist eine Geisteshaltung, die sich stets um Anpassung an bestehende Verhältnisse bemüht. Klingt abwertend. Aber nur für unsere Ohren. Denn die theologische Begriffsgeschichte ist über tausend Jahre von einem überaus positiven Verständnis der Konformität als Einfügung in die göttliche Weltordnung geprägt.

Diese Wertschätzung eines im Einklang mit der mehrheitlich akzeptierten Weltanschauung stehenden Daseins durchzieht auch die Gesellschaftstheorie von Herbert Spencers Zeiten bis in die Postmoderne. Soziologen wie Gabriel Tarde waren um 1900 fest davon überzeugt, daß konformes Betragen, verinnerlichte Nachahmung und Anpassung an soziale Normen für die Stabilität des Individuums wie für jede Koexistenzform unerläßlich sind. Soziales Dasein ist ohne Konformität gar nicht möglich.

Zugleich, und hier setzt die negative Konnotation ein, erkannte Tarde, daß kollektive Ordnungen Entfremdungs- und Abweichungstendenzen produzieren, Sub- und Gegenkulturen. Jede Gesellschaft produziert Außenseiter. Auf diese Dialektik seinen historischen Materialismus aufbauend, sah Karl Marx im zwangsläufig widerständigen Außerseitertum des Proletariats den Anfang vom Ende des Kapitalismus.

Der geschichtsphilosophische Utopismus, der sich von Marx bis zu Herbert Marcuses „großer Weigerung“ an der Dialektik von Anpassung und Abweichung entzündete, ist heute passé. Geblieben ist indes der Gesellschaften inhärente Gegensatz von Mehrheit und Minderheit. Demokratietheoretischen Modellen zufolge soll er jedoch nicht mehr systemsprengend wirken. Schließlich müsse die nonkonforme Minderheit ihr Heil nicht mehr im revolutionären Umsturz suchen, sondern darf vor jeder Wahl hoffen, selbst Mehrheit zu werden.

Demokratietheorie, die derart Systemstabilität und das Ende der Geschichte unterstellt, verkennt die Möglichkeit, daß auch pluralistische Gemeinwesen versteinern können und ihnen mit der institutionalisierten Opposition auch die Fähigkeit zu realitätsgerechtem Handeln verlorengeht. Die DDR und das SED-Regime, mit der die semitotalitären Strukturen des medial vakuumverpackten Blockparteienkartells der Berliner Republik derzeit häufiger verglichen werden, bietet ein Beispiel für den Zusammenbruch eines im „alternativlosen“ (Angela Merkel) Konformismus erstarrten Systems.

Zuletzt vermittelte die Debatte um Thilo Sarrazins Thesen zu Multikulturalismus und Einwanderung ein Bild davon, welches Konfliktpotential sich in der „bunten Republik“ (Christian Wulff) aufgebaut hat zwischen dem von der politischen Nomenklatur erzeugten Konformitätsdruck veröffentlichter Meinung und dem Willen des Volkssouveräns, der den Euro so entschieden ablehnt wie die Einwanderung. Hier böte sich wahrlich Stoff in Fülle für den Merkur, der „Deutschen Zeitschrift für europäisches Denken“, um im diesjährigen Sonderheft die Frage zu beantworten: „Warum jeder ein Nonkonformist sein will, aber wenige es sind“.

Allerdings müßte die betagte Monatsschrift, die zwei Jahre älter ist als die BRD, dann nicht das Sprachrohr intellektueller Konformität sein. Haben sich doch mit Jürgen Kaube, Rainer Hank (FAZ), Henning Ritter (Ex-FAZ), Jörg Lau (Die Zeit), Gustav Seibt und Lothar Müller (Süddeutsche Zeitung) gleich ein halbes Dutzend Exponenten von Ihrer Majestät allergetreuester Presse-Opposition vom Thema animiert gefühlt.

Mehr als etwa Seibts ödes Worthülsen-Ikebana zu seinem „Lieblingsaußenseiter“, Wilhelm Raabes Romanfigur Heinrich Schaumann, darf von solchen Probanden freilich niemand erwarten. Ebensowenig von „regelrechten Quatschköpfen“ (Kurt Scheel) wie den akademischen Mediengrößen Heinz Bude (Hamburger Institut für Sozialforschung), Harald Welzer (Essen) und Hans Ulrich Gumbrecht (Stanford). Zu schweigen von Adam Krzeminski, polnischer Dauergast deutscher Redaktionen und TV-Studios, dem noch nie eine unbequeme Meinung entfuhr, sowenig wie den Merkur-Herausgebern Scheel und Karl Heinz Bohrer oder den Neuphilologen Peter Bürger und Karin Westerwelle. Ute Frevert weicht eskapistisch lieber auf die Biographie des DDR-Sozialhistorikers Jürgen Kuczynski aus, um dessen scheinbare Nonkonformität im realen Sozialismus nicht etwa deshalb zu geißeln, weil er die „marxistisch-leninistische Parteilinie“ verinnerlichte, sondern ob seines Desinteresses an der „jüdischen Frage“. Ein typisch systemkonformer Schlag mit der Moralkeule ersetzt hier die von ihr zu fordernde Selbstanalyse einer Historikerin, die sich reflexionslos in solche Diskursmuster zwängt.

Mit solchen Plaudertaschen wird ein großes Thema eben todsicher verschenkt. Deshalb will selbst eine vage Diagnose der Problemlage kaum gelingen. Der Heidelberger Altphilologe Jürgen Paul Schwindt beschreibt zwar die Totalisierung der Universitäten, die „grassierende Ideologisierung der Sprache“, die an „autoritäre Systeme“ erinnere, konstatiert zudem, der Prozeß sei inzwischen soweit gediehen, daß „die Rekrutierung eines Nonkonformisten systembedingt nahezu ausgeschlossen ist“, nennt aber nicht Roß und Reiter.

Kurt Scheel empört sich über „die Nazizeit“ als „Glutkern unserer Diskussionskultur“, bedient sich jedoch an dieser Theke kräftig, wenn er Eva Hermann denunziert, sie habe „das Mutterbild der Nazis gut gefunden“, oder wenn er bei Sarrazin weiterhin eine Nähe zum „Rassismus“ suggeriert. Ähnlich wagt Norbert Bolz (TU Berlin) gegen den „fanatischen Feminismus“ als Symptom einer gesellschaftlichen „Geisteskrankheit“ zu ätzen. Aber hier wie auch sonst bleibt die Kritik vornehm abstrakt. Der nonkonforme „Reaktionär“, für Bolz, wie für Ernst Jünger einst der „Waldgänger“ und „Anarch“, der Gegentypus des Massenzeitalters, verfehlt die Frontlinien unserer Epoche um Lichtjahre.

Gibt man dies Merkur-Heft ins Altpapier, bleibt immerhin ein zarter Eindruck unfreiwilliger Erhellung der geistigen Situation der Zeit. Bestätigen die Beiträge doch, daß es „nahezu ausgeschlossen“ ist, von systemkonformen Medien etwas anderes zu erwarten als die Befestigung von „Verblendungszusammenhängen“ (Theodor W. Adorno).

Sag die Wahrheit! Warum jeder ein Nonkonformist sein will, aber nur wenige es sind. Sonderheft Merkur, Klett-Cotta, Stuttgart 2011, broschiert, 238 Seiten, 21,90 Euro

Foto: Gegen den Strom: Jede Gesellschaft produziert Außenseiter

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