© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/11 / 14. Oktober 2011

Reise ins Hochmittelalter
Die Herrlichkeit des Herrn oder Selbstvergewisserung einer Nation: Zur Ausstellung „Naumburger Meister“
Fabian Schmidt-Ahmad

Unwillkürlich drängt sich einem ein Gleichnis aus dem Pflanzenreich auf, betrachtet man jenen gewaltigen Umschwung in der Formsprache des mittelalterlichen Europa: Hier das in sich ruhende, abgeschlossene Samenkorn, dort der zum Licht aufschießende und sich ausdifferenzierende Pflanzenkeim, so erscheint der Übergang von der Romanik zur Gotik. Ebenso geheimnisvoll bleibt auch die zentrale Schlüsselfigur jener Metamorphose, welche die Kunstgeschichte etwas ratlos nach ihrem Hauptschaffensort schlicht den „Naumburger Meister“ nennt.

Denn in Naumburg wird dieser Umschwung faßlich. 1242 als spätromanische Kathedrale errichtet, erhielt der Dom Sankt Peter und Paul ein Westchor im neuen Baustil. Um 1250 entstanden hier jene zwölf Stifterfiguren, die heute als der Inbegriff gotischer Kunst gelten. Wer kennt sie nicht, die unwirklich schöne und unnahbare Uta, wie sie elegant in ihren Mantel greift? Oder ihren Mann Ekkehard, selbstbewußt den Schwertgriff gepackt? Ohne es zu wissen, schuf jener unbekannte Künstler Stoff für die ikonographische Selbstvergewisserung einer ganzen Nation. Doch wer war dieser Mann?

Nach über drei Jahren Vorbereitung ist es der Stadt Naumburg, den Vereinigten Domstiftern zu Merseburg und Naumburg und dem Kollegiatstift Zeitz gelungen, dieser Frage in einer beeindruckenden Monumentalschau nachzugehen. Über fünfhundert Indizien, Hinweise und Spuren des Naumburger Meisters und seiner Welt wurden in einer großangelegten Schau zusammengetragen. Neben dem Naumburger Dom zeigen das Stadtmuseum Hohe Lilie und das Schlößchen am Markt Exponate aus dem 13. Jahrhundert, hauptsächlich aus Nordfrankreich und Süddeutschland. Genauer gesagt aus jenem Kulturraum, in welchem jener geistige Impuls sich zuerst entfaltete, den man später „Gotik“ nannte.

Den Besucher erwartet eine Reise in das europäische Hochmittelalter, in welchem sakrale Kunst als Dienst an Gott galt. Trotz seines ohne Zweifel hohen Ansehens tritt der Naumburger Meister ganz hinter seinem Werk zurück. Nur durch die Häufung von Steinmetzzeichen, Stilvergleichen und dergleichen mehr kann man heute vermuten, daß der Hochbegabte an Kirchen Nordfrankreichs ausgebildet wurde. Nach 1220 führt sein Weg über Reims, vielleicht Metz und Mainz nach Naumburg, wo er den Gipfelpunkt seines Schaffens setzte.

Ein neuer Typus des Künstlers tritt mit ihm auf, der nicht bloßer Arbeiter am Bauschmuck ist, sondern der als Architekt den Raum insgesamt als Gesamtkunstwerk schafft. Unter seinem gestaltenden Willen tritt das Tragende und Lastende der noch stark von der römischen Baukunst dominierten Romanik zurück, neue Kräfte werden entfesselt und öffnen den Blick. Ein bisher unbekanntes Selbstbewußtsein wird ersichtlich, ein unverhohlener Stolz auf die eigenen Fähigkeiten, mit denen man den Schöpfungsakt Gottes in der Gestaltung seines Hauses nacherlebt.

War das eingangs gegebene Gleichnis mit der Pflanze wirklich so abwegig? Verblüfft stellten Historiker fest, daß sich im Bauschmuck nicht einfach stilisierte Ornamente, sondern tatsächlich die Pflanzenwelt der jeweiligen Umgebung wiederfindet. Im Naumburger Dom mit einer naturwissenschaftlichen Akkuratesse in Kalkstein ausgeführt, die dem Botaniker sogar erlaubt, den Vegetationsstand von Beifuß, Weinrebe, Feldahorn, Hahnenfuß und so weiter zu bestimmen. Auch der Besucher ist dazu aufgefordert. Ein schön gestalteter Klostergarten mit vielen anschaulichen Beispielen lädt zur Entdeckungsreise ein.

Wer weiß, vielleicht gelingt es ja einem Besucher, im Zwiegespräch mit den erstmals in einer Ausstellung vereinten, bedeutendsten Arbeiten des unbekannten Meisters, dem Lettner aus Mainz, der Horburger Madonna, dem Bassenheimer Reiter (allerdings als Gipsabguß) und etlichen Kapitellen aus dem Meißner Dom, jenes eine Geheimnis zu ergründen, welches Johann Wolfgang von Goethe in die Worte kleidete: „vermannigfaltige die ungeheure Mauer, die du gen Himmel führen sollst, daß sie aufsteige gleich einem hocherhabnen, weitverbreiteten Baume Gottes, der mit tausend Ästen, Millionen Zweigen und Blättern wie der Sand am Meer ringsum der Gegend verkündet die Herrlichkeit des Herrn, seines Meisters.“

Die Ausstellung „Der Naumburger Meister – Bildhauer und Architekt im Europa der Kathedralen“ an vier Standorten ist bis zum 2. November täglich von 10 bis 19 Uhr, freitags bis 22 Uhr, zu sehen. Telefon: 0 34 45 / 23 01-120. Der Eintritt beträgt 12 Euro. Der zweibändige Katalog kostet im Museum 49,95 Euro.

http://naumburgermeister.eu/

Foto: Dom St. Peter und St. Paul in Naumburg, Westlettner-Portal mit Kruzifix am Türpfeiler: Dienst an Gott

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen