© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/11 / 14. Oktober 2011

Pankraz,
die Euro-Krise und der Zauber Gullveigs

Wie nicht anders zu erwarten, prägt die Euro-Krise auch das Feld der Neuerscheinungen auf der Frankfurter Buchmesse. Kaum ein Verlag, der nicht mindestens ein Buch über den bösen Finanzkapitalismus in seinen Regalen hätte. Energische Alternativen zu diesem (samt Euro-Abschaffung) werden freilich, soweit Pankraz sieht, von seriöser Seite nicht angeboten. Die Riesenpleite des Sozialismus hat die Stichwortgeber vorsichtig gemacht. Am radikalsten noch der Vorschlag (unter anderem von Hans-Olaf Henkel), man solle die Euro-Zone in eine Nord- und eine Südabteilung aufspalten, um so dem Norden ein erfolgreiches Wirtschaften zu ermöglichen.

Skandinavien, die Niederlande, Deutschland, Österreich, die Schweiz – allein diese Länder, sagt Henkel, könnten im heutigen Europa wirklich sparsam und vorsichtig mit Geld umgehen, denn allein sie hätten eine gleichsam natürliche, tief einverseelte Angst vor dem Schuldenmachen, was sie vor allzu ungeniertem Ausgeben von Milliarden bewahre. Natürlich haben solche Feststellungen sogleich das Geschrei der politisch korrekten Aufseher provoziert. Man wolle eine „germanische Wirtschaftsunion“ schaffen, heißt es in diesen Kreisen, das müsse „mit allen Mitteln“ verhindert werden.

Aber vielleicht sollte man zunächst einmal von der „germanischen Schuldunion“ sprechen, bevor man aktuelle wirtschaftspolitische Vorhaben PC-korrekt verketzert. Was heißt „germanische Schuldunion“? Nun, schon der germanische Ur-Mythos, also die „Edda“, kreist zentral um das Thema von Schuld und Geldausgeben und benennt Schuldigwerden in Finanzdingen klipp und klar als Ursache für apokalyptische Verhältnisse, ja letztlich für den Weltuntergang überhaupt.

Davon kann sich jeder Messebesucher in Frankfurt überzeugen, wenn er in den vielen Neuausgaben der Edda blättert, die dieses Jahr ausgestellt werden. Der Düsseldorfer Diederichs Verlag etwa zeigt seine furiose Übersetzung von Felix Genzmer, der Wiesbadener Marix-Verlag bietet in mittlerweile zehnter Ausgabe seine von Manfred Stange übersetzte und sorgfältig dokumentierte Gesamtausgabe von 434 Seiten an. Und am Stand des Münchner Beck Verlags begegnet man einer ausführlich kommentierten Edda-Edition von 2007, in der berühmten klassischen Gestalt von Karl Simrock.

In allen diesen Bänden liest man also vom desaströsen Schuldigwerden der Germanen durch risikobeladene Geldgeschäfte. An sich sind sie Verbündete guter Götter, die sie vor wahnwitzigen Riesen aus dem eisigen „Niflheim“ und vor heimtückischen unterirdischen Zwergen wirksam beschützen; Symbol dafür ist der herrliche Bifröst, der Regenbogen, der sich zwischen Himmel und Erde spannt. Auch ist man gegen Überfälle von außen gut geschützt durch führende Helden, die in Walhalla zusammen mit den Göttern Met trinken. Met aber fließt direkt aus dem Stamm der Weltesche Yggdrasil und steht für grüne Natur insgesamt.

Jedoch, die Helden haben alle ein schlechtes Gewissen, fühlen sich schuldig. Denn sie alle haben Geschäfte mit der Zauberin Gullveig gemacht und stehen bei ihr in der Kreide. Gullveig ist ein Mischgeschöpf aus Riesen und Zwergen, und sie ist die Hüterin des Goldes, des Geldes. Das Geld aber ist der große Unheilstifter in der germanischen Mythologie. Seinetwegen werden falsche Eide geschworen, seinetwegen geht man fatale, in Banden schlagende Verpflichtungen ein, verschuldet sich immer weiter.

Und seinetwegen, wegen des Streits um den Nibelungenhort, den Schatz, den die Zwerge aufgehäuft haben und den sowohl die Riesen wie die Götter bzw. die Menschen wollen, kommt es zum Endkampf, zu jenem aberwitzigen Gemetzel, das in der Edda ausführlichst ausgemalt wird. Wotan tritt gegen den Fenriswolf an und unterliegt. Seine Gemahlin Freia wird von Sirt, dem Riesen des Feuers, niedergezwungen, der schöne junge Gott Thor von der Midgardschlange.

Zusammen mit den Göttern sterben die Menschen, werden von Erdbeben, Vulkanausbrüchen und Tsunamis vernichtet. Die Welt im Ganzen wird vernichtet, die Brücke, die die Götter einst über dem Chaos errichtet hatten, stürzt ein, die grüne Esche Yggdrasil verbrennt, und die Riesen und Zwerge, inklusive Gullveig, verhungern, weil sie nun nichts mehr zu fressen haben – Sieger, die sich selbst besiegt haben. Was einzig bleibt, ist das Seufzen der Mütter tief, tief im Inneren des Chaos, ein ewiges Wimmern, von dem niemand zu sagen weiß, ob es je wieder zu Gestalten und Formen führen wird und welche das sein werden.

So also klingt die Edda, der Ur-Mythos der Germanen über die Schuld und die Folgen der Schuldenmacherei. Es wäre zweifellos ziemlich verwegen, fast ein wenig verrückt, die Notwendigkeit einer modernen nord- und mitteleuropäischen („germanischen“) Wirtschaftsunion mit Blick auf diese Art von mythologischer Schuldunion begründen zu wollen. Doch bemerkenswert, findet Pankraz, ist der Casus allemal. Schließlich sind „Mythen“ (das heißt: „große farbige Kollektiv-Erzählungen“), wie die Kulturforscher längst wissen, keine Kleinigkeit, verdienen einen respektablen Platz in der wissenschaftlich-philosophischen Erkenntnistheorie.

Karl Marx mit seinen drei Bänden „Kapital“ (auch diese sind selbstverständlich üppig auf der Buchmesse vertreten) kam seinerzeit höchst „wissenschaftlich“ daher, und die Bände wurden im vorigen Jahrhundert vielerorts geradezu als „Neue Bibel“ gehandelt, waren Gegenstand unzähliger Universitätsseminare und galten als hundertprozentig verläßliche Auskunftei für Gegenwart und Zukunft. Doch nichts davon ist übriggeblieben. Marx’ „Kapital“ wird heute weder als Wissenschaft noch als Erzählung ernst genommen.

Die Edda hingegen gewinnt von Jahr zu Jahr an erzählerischem Glanz, und ihre Kernaussage dient jetzt sogar als politisches Zentralgebot: Du sollst Deine Schulden knapp halten und rechtzeitig zurückzahlen.

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