© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/11 / 14. Oktober 2011

„Sonst ist Europa eine Lachnummer“
Egon Bahr will die Quadratur des Kreises: Mehr EU und mehr deutsche Nation gleichzeitig. Nur so könne Deutschland aufhören, „Protektorat“ zu sein.
Moritz Schwarz

Herr Professor Bahr, wie lange wird die Euro-Krise noch andauern?

Bahr: Das ist eine gute Frage. Man muß leider sagen: Wir haben es derzeit mit der versammelten Schwäche, Feigheit und Unfähigkeit der Politik zu tun. Und ich sehe da auch mindestens die nächsten zwei Jahre keine Veränderung.

Warum nicht?

Bahr: Weil wir 2012 Wahlen in Frankreich, den USA und in Rußland haben und in Deutschland 2013. Und solange ich nicht weiß, was dabei herauskommt, kann ich Ihre Frage nicht beantworten. Die Wiederwahl der Staatschefs dieser vier Länder ist gefährdet. Die geringsten Änderungen wird es durch Putin geben, bei den anderen weiß niemand, wer nach der Wahl an der Spitze steht. Bis dahin können wir nur hoffen, daß solange keine zu großen Fehler gemacht werden.

Haben wir noch so viel Zeit?

Bahr: Ich würde mir wünschen, daß wir den Mut hätten, Nägel mit Köpfen zu machen. Etwa zu erkennen, daß, wenn wir Europa ernstlich wollen, dies nur ohne England geht. Ich habe mit Bewunderung verfolgt, mit welcher Meisterschaft es England seit sechzig Jahren und nach seinem EG-Beitritt versucht und geschafft hat, eine Vorzugsstellung zu erlangen: nämlich erstens mitzureden, zweitens zu bremsen, drittens mitzubestimmen, viertens sich zu weigern, die unwiderrufliche Bindung an den Kontinent einzugehen. Und solange das so ist und die anderen Europäer nicht den Mut haben, daraus Konsequenzen zu ziehen, so lange wird Europa keine internationale Handlungsfähigkeit erlangen.

Die Engländer sind doch nicht das Problem, sondern der Mangel an Entschlossenheit – entweder den Euro zu retten, oder sich vor ihm zu retten.

Bahr: Ich sage ja, von denen, die jetzt das Sagen haben, ist keiner mutig und vor allem stark genug, das zu wagen.

Wie sähe nach Ihrer Ansicht die Lösung aus?

Bahr: Es steht für mich außer Zweifel, daß Europa nur durch die Reduktion der Souveränität seiner Nationalstaaten internationale Handlungsfähigkeit bekommen kann. Ich bejahe dieses Ziel, weil ich der Auffassung bin, daß Europa als handlungsfähiger globaler Mitspieler eine Vorbildfunktion gewinnen könnte, weil es der einzige Kontinent wäre, der keinerlei territoriale Ambitionen hat, der für niemanden eine Bedrohung darstellt, der bei allem, was man kritisieren mag, immer noch ein fabelhaftes soziales Netz hat und eine noch immer interessante Wirtschaftsentwicklung, wenn ich das mit anderen vergleiche. Wir wären also ein Pol in einer multipolaren Welt, der neben Amerika, Rußland, China, Indien, und vielleicht bald Brasilien, ein wirklich interessantes Modell wäre.

Sprich, die Vereinigten Staaten von Europa?

Bahr: Es wird kein Nationalstaat
Europa, sondern eine Föderation, und dafür bin ich.

Und doch das Ende der Nationalstaaten.

Bahr: Ich hoffe, daß die Deutschen so gute Patrioten werden wie die Spanier, die Italiener oder die Franzosen – die nationale Identität dieser Nationen ist doch nicht abzuschaffen.

Glauben Sie das wirklich?

Bahr: Ich bin ganz sicher, daß etwa die Frage der Bildung und der Ausbildung unserer jungen Menschen, also die kulturellen Fragen weiter in der Hand der Nationen bleiben. Das gilt auch für militärische Einsätze. Vor allem behalten die Nationalstaaten die Kompetenz zu entscheiden, welche Kompetenzen sie an die EU übertragen wollen.

Laut einer Umfrage zum fünfzigsten Jahrestags des Mauerbaues hielten zum Beispiel 35 Prozent der Berliner die Mauer politisch ganz oder teilweise für richtig. Offenbar sitzt das Nationalgefühl bei uns nicht ganz so fest im Sattel, wie Sie hoffen.

Bahr: Ich will diese Umfrage nicht beurteilen, weil ich nicht weiß, ob dieses Bild, in dem die Ostberliner natürlich eine ganz besonders große Rolle spielen, für das ganz Land gilt. Ich glaube aber, diese Umfrage hat vor allem etwas mit den Unterschieden zu tun, die in vierzig Jahren Teilung entstanden und in der Tat in zwanzig Jahren Einheit noch nicht überwunden worden sind. Diese werden nach wie vor empfunden, und das liegt auch an der Einmaligkeit Deutschlands.

Einmalig inwiefern?

Bahr: Deutschland ist das einzige Land in Europa, das seine nationale Identität noch sucht. Die polnischen Kommunisten zum Beispiel waren genauso Polen wie die Konservativen, und die Gewerkschaften dort fühlten genauso polnisch wie die Kirchen. Frankreich etwa, genau das gleiche, nur in Deutschland ist das auseinandergegangen.

Warum?

Bahr: Weil wir eben das einzige Land in Europa sind, das geteilt wurde. Alle unsere Nachbarn haben die Zeit des Reiches und danach überstanden, im unbezweifelten Besitz ihrer nationalen Identität. Nur wir haben die souveräne Nationalität, wie Bundeskanzler Schröder sie einmal formuliert hat, immer noch nicht erreicht.

Bundeskanzler Schröder?

Bahr: Schröder hat gesagt, wir müßten wieder ein normaler Staat werden – das war damals eigentlich unerhört, denn unsere Nachbarn haben sich gefragt: „Um Gottes willen, müssen wir wieder das neue Deutschland fürchten?“ Ich sage, natürlich nicht! Aber es geht nun mal nicht ohne diese Normalität, und wir empfinden diese Selbstverständlichkeit unserer nationalen Identität noch immer nicht.

Eine interessante These, denn sonst setzt kein Kommentator, Politiker oder Intellektueller die Defizite unserer inneren Einheit in Beziehung zum Problem der Normalisierung unseres nationalen Selbstverständnisses.

Bahr: Vielleicht haben wir darüber früher einfach nicht diskutiert. Ich jedenfalls habe immer die These von Willy Brandt vertreten, daß auch im Zeitalter der Großraumkonstellationen die Nation der einzige Raum bleibt, in dem man sich zu Hause fühlen kann und selbstverständlich lebt.

Vielen gilt die Nation eher als ein antidemokratisches Ressentiment.

Bahr: Ein Blick nach England, in die skandinavischen Länder oder auch nach Amerika zeigt, daß Demokratie und Nation kein Widerspruch sind. Und kein Volk kann auf Dauer leben, ohne sein inneres Gleichgewicht zu verlieren, wenn es nicht ja sagen kann zum Vaterland. Und wissen Sie, das Internet etwa ist nicht patriotisch. Es wird uns letztlich bei den wirklich wichtigen Fragen nicht helfen. Diese Technisierung allein ist gar nichts.

SPD und CDU ziehen heute allerdings die EU dem deutschen Nationalstaat vor.

Bahr: Nach meiner Ansicht ist das innere Gefüge und das Bewußtsein der Nation dem europäischen Zusammenschluß nicht unter- sondern gleichgeordnet. Die Nationen werden in überschaubarer Zukunft ebensowenig verschwinden, wie die Staaten absterben. Das hat Brandt 1966 gesagt, und das heißt für mich, ich fühle mich selbstverständlich als Weltbürger besorgt, ob wir die großen Herausforderungen dieses Jahrhunderts meistern werden, ohne unseren Globus zu zerstören. Ich weiß als Europäer ganz genau, daß es zu einer Nation Europa noch ein sehr langer Weg ist und ich weiß mich als Deutscher geborgen in der Nation, die nach wie vor bestimmt, etwa ob Söhne und Töchter zum Militärdienst eingezogen oder eingesetzt werden, oder verantwortlich ist für die kulturelle Ausbildung der Jugend. Denken Sie daran, daß es für einen guten Spanier, einen guten Franzosen oder einen guten Polen keinen Widerspruch gibt zwischen Nation und Europa. Und so könnte ich auch formulieren, daß es zweifelhaft ist, ob man ein guter Europäer werden kann, wenn man nicht auch ein guter Deutscher ist.

Wenn Sie sagen, es bestehe ein Zusammenhang zwischen dem Gelingen der inneren Einheit und der Normalisierung unseres nationalen Selbstverständnisses, investieren dann unsere Intellektuellen, Journalisten und Politiker genug Mühe auf diese Normalisierung? Das scheint doch für die allermeisten kein Thema zu sein.

Bahr: Ich kann diese Frage schlecht beantworten. Der ehemalige US-Sicherheitsberater Zbigniew Brzeziński hat 1997 in seinem Buch „Die einzige Weltmacht“ über Amerika nach dem Kalten Krieg geschrieben: Er habe auf die Weltkarte geschaut und kam in bezug auf Westeuropa zu dem Schluß: Das bleibt sicherheitspolitisch ein Protektorat. Und die Tatsache, daß sich bei uns fast keiner beleidigt fühlte oder aufgeregt hatte, zeigt, daß er recht hat. Wir haben uns als Protektorat empfunden und sind es prinzipiell heute immer noch. Das heißt, es ist völlig ausgeschlossen, zu glauben, daß europäische Einzelstaaten, vielleicht auch noch ohne Euro, in dieser Welt der Großraumverbände und der Multipolarität bestehen können. Denn dann bleiben wir Europäer eine Quantité négligeable.

Bekümmert Sie die Tatsache nicht, ein Protektorat zu sein?

Bahr: Also ich kann nur sagen, wir haben das bisher ganz gut überlebt – weil wir anständig und nett und sehr vorsichtig waren mit dem, was unsere letzte Verantwortung für unser Schicksal ist. Aber unser Problem ist in der Tat, daß sich Europa in einem bejammernswerten Zustand befindet: Und solange Europa unfähig ist, seine Strukturfehler zu beseitigen, kann es gar keine eigene Rolle spielen. Ich möchte zum Beispiel gerne mal wissen, wer eigentlich in Europa entscheidet? Ist das dieser Belgier, den kaum einer kennt und der jetzt vielleicht für Wirtschaftsfragen EU-Sprecher sein soll, oder ist das Frau Ashton, die Israel kritisiert wegen dessen Siedlungspolitik. Ich nehme an, doch wohl mit Zustimmung der Bundesregierung – obwohl die Kanzlerin etwas anderes sagt!? Oder ist es Herr Barroso, der mit seiner Kommission in Brüssel das durchführen soll, was die eigentlichen „Souveräne“, nämlich die Regierungen beschließen und nicht, was das Parlament will. Solange diese Strukturfehler nicht beseitigt sind, ist Europa eine Lachnummer.

Sie sprechen einerseits davon, es sei notwendig, die Nation zu bewahren, andererseits fordern Sie de facto deren Entmachtung zugunsten der EU.

Bahr: Das ist kein Widerspruch. Außerdem kann ich nicht vergessen, daß die EWG damals der einzige Raum gewesen ist, in dem die alte Bundesrepublik zum ersten Mal gleichberechtigt am Tisch saß. Ich kann nicht vergessen, daß wir die einzigen waren, damals aus gutem Grund, die wirklich die Vereinigten Staaten von Europa wollten. Wir haben geglaubt oder gehofft, daß wir die Last unserer schrecklichen Vergangenheit im rettenden Hafen Europas loswerden können, aber wir haben das nicht geschafft.

Also hat die mangelnde Normalisierung unseres nationalen Selbstverständnisses weniger mit der deutschen Teilung als mit dem Dritten Reich zu tun?

Bahr: Das eine nicht ohne das andere, und natürlich spielt es auch eine Rolle, daß wir diese schreckliche Geschichte mit der Aufarbeitung gemacht haben.

Was meinen Sie?

Bahr: Man muß sich doch fragen, ob wir es schaffen, diese Art von Selbstzerfleischung in der ehemaligen DDR zu überwinden, die darin besteht, daß wir das einzige Land sind, daß den Versuch macht, durch Aufarbeitung seine Geschichte zu bewältigen. Das erscheint mir unmöglich.

Konkret? Zum Beispiel?

Bahr: Sehen Sie, wir Deutsche versöhnen uns schneller mit unseren Nachbarn als mit uns selbst. Natürlich, das Dritte Reich können und dürfen wir nicht vergessen, und ich bin sicher, auch in fünfhundert Jahren wird Auschwitz noch das hoffentlich einzige erschreckende Beispiel für industrielle Menschenvernichtung sein. Aber Auschwitz und das Dritte Reich dürfen uns doch nicht daran hindern, unseren Blick in die Zukunft zu richten. Wir können nicht jedesmal, wenn wir nach vorne blicken wollen, erstmal zurückblicken, und uns fragen, ob wir das überhaupt wegen Auschwitz dürfen? Das wäre doch fast eine Art von rückwirkendem negativem Mitspracherecht. Wir sind es Europa schuldig, daß wir die Belastungen der deutschen Vergangenheit nicht dorthin mitschleppen und Europa so an der Entwicklung hindern. Ich habe kürzlich in Warschau den polnischen Präsidenten sagen hören: „Wir müssen nicht vergessen, wenn wir uns mit unseren deutschen Nachbarn versöhnen.“ Wenn wir das übersetzen würden auf uns selbst, welche Erleichterung wäre das!

Wir doktern seit über sechzig Jahren an der Aufarbeitung des Nationalsozialismus herum. Sie stellen selber fest, daß dabei etwas schiefläuft. Also was konkret müssen wir verändern?

Bahr: Ein Franzose hat einmal gesagt: „Wir können vergessen, wenn wir wissen, daß die Deutschen nicht vergessen.“ Ich will ja nicht vergessen – um alles in der Welt –, aber das darf doch nicht unsere Zukunft behindern.

In die Debatte um die Aufarbeitung der DDR-Geschichte haben Sie sich mit dem Vorschlag eingeschaltet, quasi einen Schlußstrich zu ziehen.

Bahr: Helmut Kohl hat vor der Enquete-Kommission des Bundestages einmal gesagt: „Wenn man mich gefragt hätte, hätte ich gewußt, was ich mit den Stasi-Akten mache ...“

Nämlich?

Bahr: Leider hat ihn das kein Abgeordneter gefragt. Wir sollten diese ganzen Unterlagen den Behörden geben, die dafür da sind – selbstverständlich sollte dabei das individuelle Recht des einzelnen, seine Akten einzusehen, erhalten bleiben. Aber insgesamt muß unter die Sache in der Tat irgendwann einmal ein Schlußstrich gemacht werden. Denn in dem Augenblick wären wir endlich die Illusion los, deutsche Vergangenheit bürokratisch aufarbeiten zu können. Das geht nicht! Und wenn etwa die Spanier nach Franco damals dem deutschen Beispiel gefolgt wären, hätte es einen Bürgerkrieg gegeben.

Wir haben versucht, die NS-Vergangenheit aktenmäßig aufzuarbeiten und das versuchen wir jetzt auch mit der DDR-Vergangenheit. Wenn Sie sagen, das sei ein deutscher Irrweg, müßten Sie dann nicht auch einen Schlußstrich für die NS-Vergangenheit fordern?

Bahr: Der ist doch längst erfolgt. Seit 1968 wurden alle NS-Taten rückwirkend zum 8. Mai 1960 außer Verfolgung und Ermittlung gestellt, sofern kein Mordvorsatz nachgewiesen wurde. Dieses „EGOWiG“ – Einführungsgesetz zum Ordnungswidrigkeitsgesetz – fiel nicht besonders auf. Das galt für alle Soldaten, SS-Leute, NS-Funktionäre und KZ-Wärter. Die Witwe des Volksgerichtshof-Präsidenten Roland Freisler bekam ihre Rente, während heute noch Hinterbliebene aus dem DDR-Apparat darum klagen, besonders Frauen. Ich sehe eben einen Unterschied zwischen Bergen von Leichen und Bergen von Akten – man kann das nicht gleichsetzen. Was wir von den Linken brauchen, ist Klarheit gegenüber Mauer und Vergangenheit. Die haben dazu schon einen Parteibeschluß gefaßt, der für mich auch ausreicht. Aber das Problem der Linken ist vor allem, daß sie sich nicht an diesen Beschluß halten, sondern anfangen, an dem Thema herumzudoktern und Personaldebatten zu zelebrieren.

Sie wissen allerdings genau, daß es nicht nur um Akten geht, sondern daß dahinter ebenfalls Leichen stecken. Bei den ehemals sozialistischen Staaten laut „Schwarzbuch des Kommunismus“ sogar weit mehr als beim Nationalsozialismus.

Bahr: Jeder kehre vor seiner Tür.Was ist denn heute vom Kommunismus übriggeblieben? Wer hat heute noch ernstlich Angst vor ihm? Wissen Sie, ich habe die Angst vor dem Kommunismus verloren, als die die Mauer gebaut haben. Warum? Weil eine Idee, die auf Weltgeltung angelegt ist und sich selbst und ihre Menschen einmauern muß, den Zenit ganz offensichtlich überschritten hat. Ich hatte danach noch Sorge wegen der Masse der Panzer und Raketen. Aber auch das ist inzwischen erledigt.

Weichen Sie da nicht aus? Nochmal: Wenn Sie einen Schlußstrich für die DDR fordern, dann müssen Sie doch auch einen für das Dritte Reich fordern?

Bahr: Nein, Ihre Frage zeigt ja schon die Unvergleichbarkeit.

Ach so ...

Bahr: Verstehen Sie, leider gibt es geschichtlich keine Gerechtigkeit. Das war ja etwa auch der Irrtum von Frau Bohley, die gesagt hat: Wir wollten Gerechtigkeit, aber haben den Rechtsstaat bekommen. Was Besseres als den Rechtsstaat hat die Demokratie nun mal nicht zu bieten.

Von ehemaligen DDR-Bürgerrechtlern sind Ihnen ob Ihres Schlußstrich-Vorschlags heftige Vorwürfe gemacht worden. Können Sie verstehen, daß die Opfer diese Lösung nicht akzeptieren können?

Bahr: Bundeskanzler Kohl hat in seiner ersten Regierungserklärung nach der Einheit mit der Zustimmung aller Parteien, außer der PDS, die „Innere Einheit“ als wichtigstes Ziel genannt und hinzugefügt: „Ich weiß, daß man damit gerade von den Opfern abermals das Schlimmste und Schwerste verlangt. Aber ohne das ist Versöhnung nicht möglich, das heißt ‘Innere Einheit’ ist nicht möglich.“ Wenn wir die deutsche Einheit entwickeln wollen, dann darf ich die Linke nicht nur aus Gründen des Prinzips, aus Gründen der Vergangenheit von der Zukunft ausschließen. Das geht nicht. Nein, ich habe einen ganz anderen Kritikpunkt: Keine Partei, die als berechenbar gelten will, kann sich verweigern, sich auf den Boden der geschlossenen Verträge zu stellen, die die Vorgängerregierungen geschaffen haben oder eingegangen sind.

Sie meinen?

Bahr: Die Vereinten Nationen, die EU, und die Nato. Das galt für die Grünen, das gilt selbstverständlich auch für die Linke heute. Solange sie das nicht schafft, ist sie nicht regierungsfähig – na ja, vielleicht will sie ja auch gar keine Verantwortung in der Bundesregierung.

Man stelle sich vor, die NPD unterschriebe ein Papier: Wir distanzieren uns vom Nationalsozialismus und bekennen uns grundsätzlich zur EU und zur Nato. Würden Sie dann sagen, man muß auch mit der NPD koalieren können?

Bahr: Nein, würde ich nicht sagen, aber ich bin, anders als mein Parteivorsitzender, nicht für ein Verbot der NPD.

Und warum würden Sie mit so einer NPD, die diese drei Punkte doch unterschreibt, nicht koalieren wollen?

Bahr: Die stehen mir zu weit rechts. Ich bin immer noch ein Brandt-Anhänger einer Mehrheit ein bißchen links von der Mitte.

Wenn die CDU mit der NPD koalieren wollte, die diese drei Punkte unterschreibt, würden sie das für legitim halten?

Bahr: Das muß die CDU entscheiden. Aber darum geht es nicht. Sondern, es geht im Augenblick darum, ob man die NPD verbieten soll oder nicht – und da wäre ich sehr skeptisch, ja das würde ich für einen Fehler halten.

Warum?

Bahr: Weil die Menschen dadurch nicht verboten werden können, und ich habe natürlich historische Erfahrungen. Das Verbot der KPD hat die Kommunisten und das der SRP die Rechten nicht beseitigt. Zur Normalität gehört auch das Recht unseres Staates, an seinem linken und rechten Rand einige Extreme zu haben, mit denen wir demokratisch umgehen müssen. Es müssen ja nicht gleich so viel sein wie in Frankreich oder in Italien. Aber zwischen vier und neun Prozent, würde ich sagen. Das muß diese Demokratie vertragen können.

Viele Konservative tun sich mit Ihren Vorschlägen zur Befriedung in puncto DDR-Verbrechen schwer, weil in Deutschland mit Verweis auf die Vergangenheit Politik gemacht wird. Wenn Sie nun die NS- und DDR-Vergangenheit verschieden gewichten, verschaffen Sie der einen Seite einen gegenwärtigen politischen Vorteil, der anderen einen Nachteil. Das ist nicht fair.

Bahr: Wie kommen Sie denn darauf? Ich habe doch für unsere ostdeutschen Landsleute kein Versorgungsgesetz nach Artikel 131 vorgeschlagen. Jeder kann doch seine politischen Vorschläge machen. Außerdem, Adenauer hat schon mit der Ernennung Hans Globkes zum Staatssekretär, als dem damals obersten Beamten, einem Kommentator der Nürnberger Gesetze de facto eine Amnestie verschafft. Wir dagegen haben keine Amnestie gemacht, obwohl ich mit Wolfgang Schäuble, damals Bundesinnenminister, darin einig war: Wenn nicht aus dem Anlaß der Vereinigung zweier Staaten zu einem Land eine Amnestie machen, wann dann? Übrigens ist das nicht an Herrn Kohl gescheitert, sondern weil sich die damals drei Parteien des Bundestags nicht einigen konnten.

Ein Beispiel: Jederzeit können Sie der „taz“ ein Interview geben. Anders bei dieser Zeitung. Sie werden zu hören bekommen: Das verbiete sich. Wenn Sie fragen, warum, werden Sie früher oder später hören: Wegen der deutschen Vergangenheit.

Bahr: Peter Brandt hat doch nicht mit der Nationalzeitung oder der Jungen Welt, sondern mit Ihnen über seinen Vater Willy und über die Nation gesprochen. Zur Nation waren sie sich nahe, obwohl Peter links vom Vater stand. (Anmerk. d. Redaktion: Siehe dazu Interview mit dem Historiker Peter Brandt, Sohn Willy Brandts und Mitglied der Historischen Kommission der SPD, in JF 40/10)

Die Jusos werden, wie bei Ihrem letzten Interview 2004, wohl als erste protestieren.

Bahr: Na und, das halt ich aus. Ich kann denen nichts verbieten. Die mir allerdings auch nicht.

Warum scheuen Sie den Ärger nicht?

Bahr: Ich teile ja nun wirklich nicht alles, was in Ihrer Zeitung steht, etwa habe ich eine grundsätzliche andere Position zu Europa. Aber mich hat eine Geschichte beeindruckt, die mir Willy Brandt einmal erzählt hat. Der norwegische König kam nach dem Krieg zurück aus dem Exil. Und bei der Ankunft sagte er, daß er auch der König der Kommunisten sei. Ich habe immer dafür gestritten, daß wir nicht einen Teil der Nation außerhalb ihrer Normalität stellen. Das gilt, unter der Voraussetzung, daß sie die Bedingungen erfüllen, nämlich auf dem Boden der demokratischen Berechenbarkeit zu stehen, für die Partei Die Linke genauso wie für die JUNGE FREIHEIT.

 

Prof. Dr. Egon Bahr: Der ehemalige Bundesminister und Bundesgeschäftsführer der SPD (links im JF-Gespräch in seinem Büro im Willy-Brandt-Haus) war Berater (ab 1960) und persönlicher Freund Willy Brandts und als Bundesminister für besondere Aufgaben (1972 bis 1974) Leiter der Deutschlandpolitik sowie „Architekt“ der Neuen Ostpolitik. Geboren 1922 im thüringischen Treffurt, wurde er wegen seiner jüdischen Großmutter als Musikstudent abgelehnt, später – 1944, nach Einsätzen an der Westfront – aus der Wehrmacht ausgeschlossen. Der ehemalige Fahnenjunker lernte Industriekaufmann, bevor er Journalist wurde. 1956 trat er in die SPD ein, deren Bundesgeschäftsführer er von 1976 bis 1981 war. Unter Helmut Schmidt ist er noch bis 1976 Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Bahr veröffentlichte zahlreiche Bücher, darunter: „Deutsche Interessen“ (Blessing, 1998), „Der Nationalstaat. Überlebt und unentbehrlich“ (Steidl, 1999) und „Der deutsche Weg. Selbstverständlich und normal“ (Blessing, 2003). 2009 macht er die sogenannte „Kanzlerakte“ öffentlich. Exklusiv für die JF nimmt er nun dazu noch einmal Stellung (siehe Kasten rechts).

 

weitere Interview-Partner der JF

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen