© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/11 / 14. Oktober 2011

Gebildet wird nicht mehr
Ansturm auf Universitäten: Das Abitur ist nicht viel wert, wenn fast jeder es hat
Heino Bosselmann

Selbst wenn sich Politik Probleme selbst bereitet, wundert sie sich gemeinsam mit den raunenden Medien später gern über die Folgen, so als wären sie nonkausal eingetreten. Weil in Bayern und Niedersachsen wegen der Rochade G8/G9 gerade zwei Abiturjahrgänge auf einmal entlassen wurden, kann man jetzt viele Zahlenrekorde lesen, zumal die Wehrpflicht ausgesetzt ist und so viele Abiturienten wie nie an die Unis drängen. Eine halbe Million Erstsemester in improvisierten Räumlichkeiten, zusätzlich geschaffene Dozentenstellen, insgesamt ein akademisches Abenteuer: Studentenflut.

Verwaltungstechnisch sind dazu alle Interpretationen durch. Der akute Uni-Stau ist nur Folge des Hickhacks in der Bildungspolitik, wie wir es seit der Oberstufenreform, spätestens aber seit „Pisa“ kennen. Das Problem liegt tiefer: Bedürfen Wirtschaft und Kulturgesellschaft überhaupt solch enormer Studentenmengen? Beliebtestes Studienfach ist BWL. Wer aber braucht alle diese akademisch geweihten Buchhalter? Benötigen wir tatsächlich so viele Abiturienten? Und schon befindet man sich auf ganz dünnem Eis. Denn die Grundvereinbarung lautet gemäß eigenwilliger Logik und getrieben von OECD-Studien: Wenn Abiturienten und Hochschulabsolventen die besten Chancen auf einen „Job“ haben (von Beruf ist seit längerem nicht mehr die Rede), dann müssen mehr junge Menschen zu hochwertigen Abschlüssen kommen, am besten per Dekret. In Hamburg beispielsweise führt prinzipiell schon jede Schule zum Abitur.

Die Politik wünscht sich „Bildung“ als soziales Korrelat für die in den Jahren der Marktradikalität eingetretenen Exklusionsprozesse. Nebenbei: Griechenland verfügt über eine der allerhöchsten Abiturientenquoten, und das nicht deswegen, weil die Griechen das philosophische Volk Europas wären. Die Wunschvorstellung, deklarierte Abschlüsse würden zu besseren Chancen verhelfen, wird anthropologisch untersetzt: Jeder ist ein Talent, jedem ist alles möglich, jeder ist abiturabel, wenn das Bildungssystem nur alles richtig macht, Möglichkeiten statt Grenzen offeriert und vor allem die Bewertungen nicht persönlichkeitsdiskriminierend handhabt. Jeder soll dort abgeholt werden, wo er steht!

Funktioniert das nicht, ist dafür nicht der Schüler verantwortlich, sondern eine allzu autoritäre und viel zu sehr auf Inhalte als auf „Methodenkompetenz“ setzende antiquierte Schule, die nicht begriffen hat, was Förderung vermag. Also: Herunter mit den Anforderungen! Beispielsweise keine elementarsprachlich veranlagten Fehlerquoten im Deutschabitur, Abwählbarkeit von Fächern, vor allem eine Zahlenmystik der Notengebung, die alles optimiert so hochrechnet, daß die Schnitte stimmen. Die Politik tut so, als könne sie Bildung sozialistisch umverteilen wie Besitzstände.

So wie die Welt, hegelianisch angeschaut, immer besser, vernünftiger, mithin demokratischer wurde, so muß das Bildungssystem doch endlich ebenso „gerechter“ gestaltet sein. Das aber läßt sich nur herrechnen, ebenso wie Bildung derzeit nicht mehr qualifizieren, sondern nur quantifizieren will. Der Leiter der zentralen Studienberatung der Uni Erlangen befürchtet „daß die 1,0 diesmal nicht reicht, um sicher einen Studienplatz in Medizin zu bekommen.“ Erhöhter Streß! Was reicht also? Es müssen neue Verrechnungsgrößen her: In Erlangen etwa können Bewerber über eine Eignungsprüfung einen Bonus von bis zu 0,8 auf ihren Abischnitt erreichen, eine einschlägige Berufsausbildung bringt 0,1. So kann ein 1,4-Abiturient einen mit 1,0-Abschluß sogar überholen! Darin liegt das fragwürdige Prinzip: Es wird nur gerechnet, nicht gebildet.

Noch hat niemand sehen wollen, daß zwischen der Überzahl an Abiturienten und dem Mangel an Mathematikern, Informatikern, Naturwissenschaftlern, Ingenieuren und Medizinern ein symptomatischer Zusammenhang besteht. Wenn in den MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) zu wenige bestehen, wird viel zu vielen ein Reifezeugnis ausgedruckt, die gar nicht studierfähig sind oder erst gar nicht an die Universität wollen. Über dreißig Prozent der Studienanfänger brechen vor dem Bachelor ab. Zugestanden, daß es dafür allerlei Gründe gibt, dürfte das jedoch in etwa der Prozentsatz sein, der gar keiner Hochschulreife bedürfte. Weil aber außerhalb Bayerns und Baden-Württembergs jeder per Elternwunsch aufs Gymnasium kann, ist diese Schulart längst nicht mehr die Elite-Institution der Nation, die sie vormals war. Die Besten und Motiviertesten sitzen zwischen einem betreuten Durchschnitt, der durchgezogen werden will.

Reagiert die Universität auf die inflationäre Benotung an den Schulen mit der Erhöhung des Numerus clausus, so reflektiert das als Forderung an den Dienstleister Gymnasium zurück, doch gefälligst mehr zu fördern und besser zu bewerten. Günther Jauch schloß sein Abitur an einem humanistischen Gymnasium mit 3,1 ab, damals ein passables Resultat. Wem das heute passiert, der kann sich mit Jauch nicht mal klar unterhalten! Das Hauptproblem liegt in der Gleichsetzung von Gerechtigkeit und Gleichheit. Nach Alexis de Tocqueville erliegt die Freiheit gern der Gleichheit, weil sie mit Opfern erkämpft werden muß, Gleichheit ihren Komfort aber von selbst schenkt. Möglichst jeder zum Abitur, möglichst jeder zum Studium, damit daran die Welt genese, das ist Unfug.

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