© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/11 / 14. Oktober 2011

Demokratie schafft sich ab
In wichtigen Schicksalsfragen wird die Mehrheit des Volkes nicht vom Parlament repräsentiert
Michael Paulwitz

Demokratie könnte so schön sein, wenn das Volk nur nicht immer dabei stören würde. In der real existierenden Bundesrepublik Deutschland der Euro- und Banken-Retter leben Wahlvolk und politische Klasse in Paralleluniversen nebeneinander her – die einen inszenieren formaldemokratische Entscheidungsprozesse als absurdes Theater, die anderen lassen sie teilnahmslos an sich vorüberrauschen.

Da feiert sich dann Bayerns CSU dafür, daß der Außenseiter Peter Gauweiler, der das Unbehagen einer Mehrheit im Volk aufgreift, sich in den Gremien nicht durchsetzen konnte; die verzwergte FDP, die in ihrem Programm das Hohelied der Bürger-, Mitglieder- und Wählerbeteiligung singt, versteckt sich vor dem eigenen Parteivolk und zittert vor dem Ausgang eines nicht von oben choreographierten Mitgliederentscheids; derweil im Bundestag eine ganz große Koalition ungerührt die fiskalische Zukunft der Nation auf den Zockertisch wirft und jeden Zweifler mit wütenden Beißreflexen zu disziplinieren sucht.

Der quasi-totalitäre Konsensdruck, der die „Rettungsschirm“-Abstimmung kennzeichnete, markiert eine neue Qualität des Demokratieverfalls in Deutschland. Die interfraktionellen Attacken auf den Bundestagspräsidenten wegen der Worterteilung an zwei Abweichler aus den Regierungsfraktionen, die als einzige der Skepsis von zwei Dritteln bis drei Vierteln der Deutschen in deren Parlament eine Stimme gaben, die Ausfälle des ranghöchsten Paladins der Bundeskanzlerin, der die Berufung eines Nicht-Linientreuen auf das Verfassungsprinzip der Gewissensverantwortung von Abgeordneten mit Fäkalausdrücken belegte – solche Vorfälle beleuchten gnadenlos: In einer nationalen Schicksalsfrage wird Meinungspluralismus nicht einmal als Feigenblatt geduldet. Ganz so, als drohte selbst das leiseste Ausscheren aus der Einheitsfront diese schon zum Einsturz zu bringen wie einst die Berliner Mauer.

Die repräsentative Demokratie, die den Parlamentarier von der rätedemokratischen Tyrannei des imperativen Mandats befreit, hat dort ihre Berechtigung, wo sie Meinungsvielfalt zur Entscheidungsfähigkeit kanalisiert und stimmungsdemokratische Schwankungen glättet. Deutschlands politische Klasse hat dieses Konzept längst pervertiert: Partei- und Fraktionsapparate setzen den Wettbewerb der Meinungen und Positionen durch Denk- und Sprechverbote bei Strafe des Karriereendes und der sozialen Ächtung außer Kraft, abweichende Meinungen werden, gerade weil das Volk ihnen zustimmt, als „Populismus“ diffamiert. Das Totschlagwort prangert mißliebige Meinungen als gefährliche „Vereinfachungen“ an, um die eigenen schrecklichen Simplifizierungen vom Schlage „Der Euro ist eine Frage von Krieg und Frieden“ in den Rang unhinterfragbarer, „alternativloser“ Glaubenssätze zu erheben.

So verkommt die Debatte zum Bekenntnisreigen, die Volksvertretung vertritt ihr Staatsvolk nicht mehr, ihre scheinbar korrekt weiterlaufenden Prozesse werden zum formaldemokratischen Mäntelchen für totalitären Gesinnungszwang. „Nicht Stimmenmehrheit ist des Rechtes Probe“, wußte schon Schiller zwischen Legalität und Legitimität zu unterscheiden; Bundestagspräsident Lammert hat in der Replik an seine Kritiker wohl nicht zufällig darauf verwiesen, daß Mehrheitsentscheidungen schließlich auch im chinesischen Volkskongreß und der DDR-Volkskammer zu finden seien.

Auch Boulevard und elektronische Massenmedien gerieren sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, so pluralistisch wie die „Aktuelle Kamera“, wenn es etwa um die Euro-Retterei geht. Konfrontationsbereitschaft, kritische Nachfrage und demokratisches Wächteramt sind weitgehend Fehlanzeige, öffentlich-rechtliche und private Redakteure machen sich gleichermaßen die von der Politik ausgegebenen Marschzahlen unhinterfragt zu eigen. In dieser volkspädagogischen Kartell-Kumpanei kann man es sich leisten, die von Thilo Sarrazin ausgelöste Volksabstimmung am Büchertisch gegen die herrschende Einwanderungs- und Integrationspolitik ohne faktische Konsequenzen zu ignorieren. Plebiszite soll es nämlich nur über Petitessen geben; über ein vier oder ein paar mehr Milliarden teures Bahnhofs-projekt dürfen sich linksgefärbte „Wutbürger“ nach Herzenslust ereifern und es in Moderationen und Abstimmungen bis zur Besinnungslosigkeit zerreden – bei Euro-Kreditgarantien, die den Steuerzahler das Tausendfache kosten und die deutschen Staatsfinanzen auf Dauer an unkontrollierbare Instanzen ausliefern können, sollen nicht einmal gewählte Abgeordnete widersprechen dürfen – an Volksabstimmung erst recht nicht zu denken.

Lange vor EFSF und ESM fragte sich Alt-Bundespräsident Roman Herzog angesichts des Ausmaßes der Übertragung nationalstaatlicher Kompetenzen an Brüssel bereits, ob Deutschland noch eine Demokratie sei. Man kann es Arroganz der Macht nennen, wenn eine politische Klasse über Jahre und Jahrzehnte gegen den Willen des Souveräns den Austausch des Staatsvolks durch Einwanderung aus fremden Kulturkreisen betreibt, wenn Finanzminister Schäuble das „Monopol des alten Nationalstaats aufzulösen“ gedenkt, Sozialministerin von der Leyen die „Vereinigten Staaten von Europa“ herbeisehnt und die erforderliche Manipulation des Grundgesetzes am Souverän vorbei als bloße Formsache diskutiert wird.

Tatsächlich ist es die Arroganz der Ohnmacht, in der die politische Klasse mit der Abschaffung des Nationalstaats zugleich auf die Flucht aus der Verantwortung hofft. Diese Flucht erscheint als einziger Ausweg aus der Abhängigkeit, in die sich die Politik nicht zuletzt durch hemmungsloses Schuldenmachen begeben hat. So wie der Bürger sein Mitspracherecht wiedergewinnen muß, um Bürger zu sein, bedarf der Staat selbst der Befreiung aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.

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