© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/11 / 07. Oktober 2011

Unüberwindbare Feindschaft im Planspiel
Der Historiker Rolf-Dieter Müller wandelt in der Deutung des Angriffs des Deutschen Reiches auf die Sowjetunion 1941 quellenmäßig auf dünnem Eis
Gert Hofmann

Die Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges ist umgeschrieben worden. Der Revisionist, der das vollbrachte, heißt Rolf-Dieter Müller und ist Leitender Wissenschaftlicher Direktor des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes (MGFA) in Potsdam. Müller sitzt auch heute noch auf diesem Posten. Vier Monate nach Erscheinen seines Buches über „Hitlers geheime Pläne für einen Krieg gegen die Sowjetunion im Jahr 1939“. Einen Skandal mit automatischer Entlassung mußte Müller freilich nicht fürchten. Denn das geschichtsrevisionistische Potential, das der Journalist Sven Felix Kellerhoff dem Werk in einer hymnischen, ganzseitigen Rezension (Die Welt vom 18. Mai) konzediert, bedient nämlich die herrschende, politisch korrekte Version der Ansichten über Ursachen und Entstehung des Zweiten Weltkrieges, die gern in der auf die deutsche Politik fixierten und internationale Politik gern ignorierenden Deutung verharrt.

Es revidiert sie nur insoweit, wie sie „Geschichtsfälschern vom rechten Rand“ und „notorischen Apologeten“ wie Gerd Schultze-Rhonhof und Stefan Scheil das Handwerk lege, deren Arbeiten zum Leidwesen Kellerhoffs viele Auflagen erleben. Schultze-Rhonhof und Scheil sei zustatten gekommen, daß sich in den alten Dogmen, für die seit den 1960er Jahren renommierte Namen wie Hans-Adolf Jacobsen, Andreas Hillgruber und Klaus Hildebrand stehen, „Widersprüche“ fanden. Viele der diplomatischen und militärischen „Winkelzüge“ der Jahre 1938/39 hätten sich damit nicht mehr erklären lassen, was ihrer volkspädagogischen Tauglichkeit nach Ansicht des auf diesem Terrain versierten Journalisten Kellerhoff abträglich gewesen sei.

Das vermeintlich konzise Konstrukt von „Hitlers Strategie“, dem zufolge der Angriff auf die Sowjetunion konsequent einem ideologisch motivierten „Stufenplan zur Weltherrschaft“ gehorchte, mußte daher dringend „revidiert“ werden. Dank Müllers neuer Deutungsofferte sei das nun geschehen. Immerhin verabschiedet Kellerhoff mit solchen Einschätzungen „jahrzehntelang“ gültige Interpretationen, die zum geschichtspolitischen Tafelsilber der Bonner wie der Berliner Republik gehörten.

Müllers „Der Feind steht im Osten“ ist indes kein wirklich adäquater Ersatz für Hillgruber & Co. Produziert er doch noch mehr „Widersprüche“ als der obsolete „Stufenplan“ und bewegt sich, wie Kellerhoffs FAZ-Kollege Rainer A. Blasius (Ausgabe vom 19. Juni) moniert, quellenmäßig auf „dünnem Eis“. Ein Euphemismus, wie genauere Lektüre erweist. Denn für seine zentrale These, Hitler habe Stalins Sowjetunion schon 1939 „überfallen“ wollen, der im Juni 1941 begonnene „Vernichtungskrieg“ sei also nicht aus den Konstellationen und Handlungszwängen erwachsen, in die sich die Reichsführung mit den Feldzügen gegen Polen und Frankreich hineinmanövriert hatte, und natürlich erst recht nicht als „Präventivkrieg“ gegen die angriffsbereite Rote Armee, kann Müller nur auf „Planspiele und Studien“ aus dem Frühling 1939 zurückgreifen. Aber nicht einmal auf die der Heeresleitung (OKH), denn die seien nur „in Bruchstücken“ erhalten, sondern im wesentlichen allein auf eine „Planstudie“ zur „Ostseekriegführung“ des Generaladmirals Conrad Albrecht, die mit „Rußland als wahrscheinlichstem Kriegsgegner“ kalkuliert.

Auch das von Müller beigezogene, in der „entlegenen“ Aufzeichnung eines Verbindungsoffiziers der Luftwaffe überlieferte Planspiel des OKH-Generalstabschefs Franz Halder, aus dem Mai 1939, zieht eine Auseinandersetzung mit der Roten Armee in Betracht für den Eventualfall eines deutsch-polnischen Krieges, der Stalin als Alliierten des Warschauer Obristenregimes hätte auf den Plan rufen können. Diese dürftigen Quellen dokumentieren jedoch nichts als militärische Routinearbeit, Serviceleistungen für die politische Führung, wie sie in allen Generalstäben der Welt erbracht werden. Gewiß könnte man in US-Archiven oder den Londoner National Archives Planspiele aus den 1930ern ausgraben, die etwa auf der Annahme eines Krieges mit Japan beruhen, ohne daraus folgern zu dürfen, Washington oder London hätten das Kaiserreich zum Objekt eines „Angriffskrieges“ erkoren.

Um aus Albrechts und Halders „Studien“ Adolf Hitlers Absichten im Frühjahr 1939 herauslesen zu können, verweist Müller auf die im „Nürnberger Kriegsverbrecherprozeß“ als „Schlüsseldokument“ behandelte Niederschrift der Rede des Reichskanzlers vor den Spitzen der Wehrmacht am 23. Mai 1939, mit der berühmten Sentenz „Danzig ist nicht das Objekt, um das es geht.“ Sondern, da kein Wort über Rußland protokolliert wurde, „die Ressourcen Osteuropas“, die Müller mit Hilfe zweier wehrwirtschaftlicher Expertisen der Niederschrift implantiert. Um dann kleinlaut einzuräumen, der „genaue Wortlaut“ von Hitlers Ausführungen sei eben „unsicher“. Leider auch die „Floskel vom ‘Lebensraum im Osten’“.

Was Müller vollends zurückrudern läßt: „Hitlers Kriegsplan im Mai/Juni 1939“ habe „noch keineswegs endgültig“ festgestanden. Da muß dann wieder des Führers „persönliche Torschlußpanik“ herhalten, die Müller schon einmal als kriegsauslösendes Moment bemüht hat („Der letzte deutsche Krieg“, Stuttgart 2005).

Im Umgang mit Quellen beweist Müller auch sonst wenig Fortune. Um die These von der frühen, unbeirrbaren Fixierung des Reichskanzlers auf seinen „Ostkrieg“ zu stützen, zitiert er beispielsweise eine Äußerung des Außenministers Constantin von Neurath gegenüber dem US-Botschafter William C. Bullitt vom Mai 1936: Hitlers „Feindschaft zur UdSSR“ sei „unüberwindbar“, und er werde für den Schlag im Osten nur noch die Fertigstellung des Westwalls abwarten. In der Quelle steht jedoch genau das Gegenteil, nämlich Neuraths Urteil über die Haltung der Sowjetunion, die im Deutschen Reich ein Hindernis bei der Eroberung Europas für den Kommunismus sah. Eroberungsabsichten haben hier die Sowjets, nicht Hitler. Was nicht paßt, wird bei Müller eben passend gemacht.

Für diese eigenwillige „Methode“ des die internationalen Beziehungen, das „Spiel der Mächte“ am Vorabend des Zweiten Weltkrieges souverän ignorienden, germanozentrisch konditionierten MGFA-Mannes zeugen auch Dutzende weiterer Beispiele. Verwiesen sei nur auf die „provozierten antideutschen Aktionen“, die einen Vorwand schaffen sollten, um im März 1939 das Memelland zu „besetzen“. In der ausgezeichnet erforschten Geschichte der Rückgliederung des von Litauen 1923 annektierten Memelgebiets ist davon nichts bekannt. Und was weiß der Zeithistoriker Müller eigentlich über die mangels Quellen auch Mediävisten nur umrißhaft vorstellbaren „Schrecken Dschingis-Khans“, daß er sie im Vergleich mit dem gegen die UdSSR geführten „rassenideologischen Vernichtungskrieg verblassen“ sieht? Der Wert von Müllers historischem Fehlversuch ist am treffendsten mit Marcel Reich-Ranickis knapper Wendung zu bestimmen: „Ein schläächtes Buch!“

Rolf-Dieter Müller: Hitlers Krieg im Osten. Hitlers geheime Pläne für einen Krieg gegen die Sowjetunion im Jahr 1939. Ch. Links Verlag, Berlin 2011, gebunden, 294 Seiten, Abbildungen, 29,95 Euro

Foto: Deutscher und sowjetischer Stahlhelm aus dem Zweiten Weltkrieg: Als kriegsauslösendes Moment muß zur Not Führers „persönliche Torschlußpanik“ herhalten

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