© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/11 / 07. Oktober 2011

Tückische Idylle
Deutsche Minderheit in Belgien: Reiseeindrücke aus Eupen und St. Vith
Martin Schmidt

Wird dieser Tagesausflug in die belgischen Ostkantone Antworten auf die Frage nach möglichen Folgen der belgischen Staatskrise bringen? Wird sich die Skepsis hinsichtlich einer dauerhaften gedeihlichen Zukunft der deutschen Volksgruppe in Eupen-Malmedy in einem belgischen Mehrvölkerstaat durch die eigene Anschauung bestätigen oder relativieren?

Bereits die ersten Eindrücke, nachdem das Auto an Aachen vorbei auf der Autobahn in südwestlicher Richtung die deutsch-belgische Grenze passiert, sind gemischt. Zunächst merkt man kaum, überhaupt in einem anderen Staat zu sein, denn deutsche Namen und Beschriftungen bleiben vorherrschend, vereinzelt ergänzt um französische Übersetzungen. Das grüne Hügelland mit den unzähligen schwarz-weißen Kühen sowie die gepflegten Orte strahlen Ruhe und Wohlstand aus. In Kettenis, kurz vor Eupen, geht es erstmals an einer belgischen Fahne vorbei. Sie hängt – wohl unabsichtlich, aber doch symptomatisch – auf Halbmast und ist nur noch an einer Seite an einem dünnen Band befestigt.

Die 18.000-Einwohner-Stadt Eupen entpuppt sich als nettes Provinzstädtchen mit unverkennbar rheinischem Einschlag, dessen historische Bausubstanz im Unterschied zum nahen Aachen oder Köln den Zweiten Weltkrieg in wesentlichen Teilen überstanden hat. Der Marktplatz in der Oberstadt vereint gleich mehrere sehenswerte Gebäude: die St.-Nikolaus-Pfarrkirche, erbaut in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Renaissancestil nach Plänen des Aacheners Laurenz Mefferdatis, das Haus des Tuchkaufmanns Ackens, in dem die Redaktion der deutschsprachigen Regionalzeitung Grenz-Echo ihren Sitz hat, und das ebenfalls aus dem 18. Jahrhundert stammende Franziskanerinnen-Kloster.

Die Menschen, denen wir an diesem verregneten Tag begegnen, unterhalten sich fast ausnahmslos in ihrem überlieferten rheinfränkischen Dialekt oder in einem mundartlich gefärbten Hochdeutsch. In Cafés und Restaurants laufen deutsche Radioprogamme, und die Tagesausgabe des Grenz-Echos berichtet unübersehbar über das Aachener Lokalgeschehen und die Fußball-Bundesliga.

Wie würde die Stadt Eupen und ihr Umland wohl reagieren, wenn die national-flämischen Parteien mit ihren Unabhängigkeitsforderungen Ernst machten? Welch enorme Herausforderungen dann auf dieses Grenzland zukämen, das erst infolge des Ersten Weltkriegs unter skandalösen Bedingungen an Belgien gefallen war, wird nach Durchquerung des Hohen Venns deutlich.

Dieses bis auf fast 700 Meter ansteigende waldreiche Mittelgebirge markiert nicht nur eine deutliche Scheidelinie zwischen dem sanften grünen Wiesenland im Norden einerseits und den anmutigen Mittelgebirgsregionen zwischen Malmedy im Westen und dem moselfränkischen Südteil bis hin zum Örtchen Reuland an der luxemburgischen Grenze andererseits, sondern auch eine sprachliche, territorial- und kirchengeschichtliche sowie mentale Grenze. Überdies gibt es insbesondere rund um die Stadt Malmedy, bei Robertville und Waimes eine Reihe traditionell französischsprachiger Dörfer. Pittoreske Natursteinhäuser prägen dort das Bild und bieten zusammen mit den umliegenden Hochmoorflächen einige touristische Reize.

Doch auch hier ist die Idylle trügerisch. Am Ortsschild von Amel war die französische Zweitbezeichnung „Amblève“ ebenso übermalt wie einige andere französische Ausschilderungen im Großraum St. Vith. Das als Ausdruck eines in der Bevölkerung breiter verankerten Widerstandes gegen eine fiktive Zugehörigkeit der deutschbelgischen Ostkantone zu einem unabhängigen Wallonien oder gar zum französischen Staat zu interpretieren, wäre zwar übertrieben, aber erste Anzeichen kommender Erschütterungen des kollektiven Selbstverständnisses im Raum Eupen-Malmedy könnten diese Namenstilgungen doch sein.

Vor allem im Umfeld der einst wichtigen Industriestadt Malmedy wären neue Grenzziehungen aus sprachlich-kulturellen Gründen extrem schwierig. Der Kanton Malmedy besteht aus den zwei Gemeinden Malmedy und Waimes und gehört mit den Kantonen Eupen und St. Vith zu den drei historischen Ostkantonen, die touristisch bis heute als Einheit auftreten, zählt jedoch verwaltungstechnisch zur „Französischen Gemeinschaft Belgiens“ und ist als solcher Teil des Wahlkreises Verviers in der Provinz Lüttich. Schon zu preußischer Zeit sprach die Mehrheit hier Französisch; heute liegt der deutsche Bevölkerungsanteil bei rund 20 Prozent. Der Zweite Weltkrieg traf Malmedy zwar hart, verheerte es aber nicht in dem Maße wie das völlig zerstörte und seither architektonisch gesichtslose St. Vith.

Persönliche Gespräche in dem schön gelegenen St. Vith unterstreichen die von seiten der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens (DG) nach außen vertretene Anhänglichkeit an Belgien, dessen Identitätskrise allenfalls für eine Aufwertung zu einem vollwertigen vierten Bundesland neben den autonomen Gemeinschaften Flandern, Wallonien und Brüssel genutzt werden soll. Dies wird von einer Umfrage des polis-sinus-Marktforschungsinstituts vom Juli 2011 bestätigt. Ihr zufolge sprechen sich 39 Prozent der Deutschbelgier dafür aus, weiterhin Teil der Wallonie zu bleiben, und 52 Prozent plädieren für eine gleichberechtigte vierte Region Ostbelgien.

Viele Bewohner teilen offenbar die wallonische Kritik am flämischen „Nationalismus“ und dessen „Wirtschafts-egoismus“. Sie pochen auf eine Fortsetzung der gegenwärtigen Transferunion zu Lasten der flämischen Steuerzahler und kritisieren Bart de Wever, Parteichef der Nieuwe-Vlaamse Alliantie (N-VA) und starker Mann der Flamen, wegen dessen „Blockaderolle“ bei den Regierungsbildungsversuchen unter Federführung des wallonischen Sozialisten Elio Di Rupo.

Andererseits nimmt man natürlich auch in Eupen-Malmedy zur Kenntnis, wie sich Paris auf eine Aufnahme der Wallonie in den eigenen Staatsverband vorbereitet, was Umfragen zufolge von 60 Prozent der Franzosen begrüßt, aber – laut demoskopischen Erkenntnissen der französischen Zeitschrift Journal du Dimanche (Juli 2011) – noch bloß von einer Minderheit von 39 Prozent der frankophonen Belgier gutgeheißen wird. Und man registriert wohl auch bissige bundesdeutsche Einschätzungen wie jene von Dirk Schümer in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 10. Januar 2011, der de Wevers Parole „Lassen wir dieses Belgien geruhsam verdunsten“ als nachvollziehbare Konsequenz aus dem Scheitern des belgischen Staatsmodells darstellt.

Dementsprechend gibt es auch in Eupen längst Planspiele für den Fall der Fälle, also das Auseinanderbrechen Belgiens. Immerhin ist man für die Zukunft einer bislang kulturell gut gestellten auslandsdeutschen Volksgruppe von über 70.000 Personen verantwortlich. So wird hinter den Kulissen, vereinzelt auch öffentlich, über die Alternativen eines Anschlusses an das Großherzogtum Luxemburg oder ans Bundesland Nordrhein-Westfalen oder die Möglichkeit einer Eigenstaatlichkeit diskutiert.

Foto: Bekenntnis zur Deutschsprachigen Gemeinschaft: Nicht der Separatismus ist das Ziel, sondern das Ringen um mehr Selbständigkeit

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