© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/11 / 07. Oktober 2011

„Eine tickende Zeitbombe“
Seit zehn Jahren kämpft die Bundeswehr am Hindukusch, der längste deutsche Krieg seit knapp 200 Jahren. Achim Wohlgethan war der erste Afghanistan-Veteran, der seine Erlebnisse publizierte – heute zieht er eine ernüchternde Bilanz
Moritz Schwarz

Herr Wohlgethan, Ihr Buch „Endstation Kabul“ hat 2008 für Furore gesorgt.

Wohlgethan: Ja, denn es war – wie etwa auch der Untertitel lautet – der erste Insiderbericht eines deutschen Soldaten in Afghanistan auf dem Buchmarkt.

Warum waren ausgerechnet Sie der erste?

Wohlgethan: Das war Zufall. Als Fallschirmjäger und Angehöriger eines Fernspähtrupps sowie einer Kommandoeinheit in Afghanistan war ich am Hindukusch auch für den MAD im Einsatz. Der war zwar eigentlich zu der Zeit rechtlich noch nicht befugt, in Afghanistan tätig zu sein, aber so verfügte ich über interessante Informationen.

Etwa, die Bundeswehr habe auch außerhalb des Mandatsgebiets operiert und so die Beschlußlage des Bundestags verletzt.

Wohlgethan: Zum Beispiel, ich habe selbst an solchen Einsätzen, die der Aufklärung dienten, teilgenommen. Der spätere Koautor des Buches, Dirk Schulze, rief mich eines Tages an und bat um ein Treffen. Nachdem er sich einen Eindruck von meinen Informationen verschafft hatte, fragte er mich: „Hast du Lust, das Material zu publizieren?“ Meine spontane Antwort: „Auf keinen Fall!“ Aber er ließ nicht locker. Als Fan von Peter Scholl-Latour schwebte ihm ein Buch in dessen Stil vor. Na ja, schließlich sind wir bei Econ/Ullstein gelandet.

Sie waren Stabsunteroffizier, ein vergleichsweise niedriger Dienstgrad.

Wohlgethan: Ja, dieser Vorwurf kam immer wieder: „Wie kann ein ‘Stuffz’ das alles wissen?“ Nun, ich habe an diversen Einsätzen teilgenommen, war in diversen Operationszentralen eingesetzt. Das Entscheidende aber war, daß ich dreizehn Jahre gedient und einige meiner späteren Vorgesetzten als junge Rekruten ausgebildet habe. Dadurch hatte ich mit diesen Leuten eine ganz andere Gesprächsebene und erfuhr eine Menge.

Sind Sie später nie von Kameraden des Verrats bezichtigt worden?

Wohlgethan: Nein, meine Absicht war nicht, Geheimnisse zu verraten, sondern der Öffentlichkeit klarzumachen, was unsere Soldaten im Einsatz leisten. Das war allerdings ziemlich blauäugig.

Warum?

Wohlgethan: Weil, wie wir feststellen mußten, es die Öffentlichkeit nicht wirklich interessiert.

„Endstation Kabul“ fand ein breites, positives Presseecho, entwickelte sich zum Bestseller und löste eine Welle ähnlicher Titel aus.

Wohlgethan: Das stimmt, und es ist uns gelungen, unser Anliegen öffentlich zu machen, aber die Lage unserer Soldaten in Afghanistan hat sich kaum gebessert.

Wie ist die Lage?

Wohlgethan: Nachweislich sind deutsche Soldaten ums Leben gekommen, weil sie minderwertiges Material hatten und haben. Das kann ich belegen. Und warum ist das so? Weil die Politik viel zu lange darauf bestanden hat, daß dies gar kein Krieg ist. Und warum nicht? Weil sie diesen Einsatz dem Volk als Krieg nicht hätte verkaufen können.

Also hat der pazifistische Vorbehalt unserer Gesellschaft die Soldaten das Leben gekostet?

Wohlgethan: Ich würde eher sagen, es war der fehlende Mut der Politiker. Afghanistan ist bis heute eine tickende Zeitbombe für unsere Soldaten.

Inwiefern?

Wohlgethan: Jeden Tag gibt es Gefechte, jeden Tag kann es neue Opfer geben.

Es mag hart klingen, aber sind 52 Gefallene für zehn Jahre Krieg nicht eigentlich vergleichsweise wenig?

Wohlgethan: 52 ist die offizielle Zahl der Gefallenen. Was ist mit den Invaliden? Den Traumatisierten? Und mit den Gefallenen der Spezialkräfte, die in den Statistiken nicht auftauchen, weil deren Operationen geheim sind.

Wie hoch ist also die Gesamtzahl?

Wohlgethan: Etwa 200 Verwundete, über 1.800 Traumatisierte und eine auch mir unbekannte Zahl von Opfern in den Reihen der Spezialkräfte. Aber zurück zu Ihrem Einwand: In Kriegen fallen Soldaten, das ist normal, ja. Aber: Die Zahl der Gefallenen und Verwundeten kann reduziert werden, wenn die beste Ausrüstung zum Einsatz kommt. Das war und ist in Afghanistan nicht der Fall und darum ist ein Teil der Kameraden im Grunde der Politik zum Opfer gefallen.

Die Bundesregierung hat den Beginn des Abzugs für den Jahreswechsel angekündigt, und bis 2014 soll er abgeschlossen sein.

Wohlgethan: Das glaube, wer will; ich nicht.

Warum?

Wohlgethan: Weil die Politik sich ein Hintertürchen offengelassen hat: „Sofern es die Sicherheitslage zuläßt.“ Was auf absehbare Zeit nicht der Fall sein wird.

Sondern?

Wohlgethan: Wenn wir dort abziehen, fällt Afghanistan zurück ins Chaos. Das weiß auch die Politik.

Also verliert die Bundeswehr den Krieg?

Wohlgethan: Das kommt darauf an, was Sie unter „verlieren“ verstehen.

Sein Kriegsziel nicht zu erreichen.

Wohlgethan: Sie wird ihr Ziel nicht erreichen, kein Zweifel.

Also war der Krieg sinnlos?

Wohlgethan: Wenn ich das sage, würde ich meine gefallenen Kameraden beleidigen, nein. Außerdem war der Krieg für sehr viele Afghanen sinnvoll.

Was bleibt davon nach dem Abzug?

Wohlgethan: Ich fürchte nichts, dann wäre er in der Tat sinnlos gewesen. Was sagt uns das? Abzug in den nächsten Jahren: Mit Sicherheit nicht!

In Ihrem neuen „Schwarzbuch Bundeswehr“ kommen Sie zu dem Ergebnis, die Bundeswehr sei „kaum einsatzbereit“.

Wohlgethan: So ist es.

Nach zehn Jahren Krieg?

Wohlgethan: Man hat das zehn Jahre lang gut vertuscht.

Die Truppe führt Krieg, soll aber „kaum einsatzbereit“ sein – wie paßt das zusammen?

Wohlgethan: Die Bundeswehr war von Beginn an auf ihre Partner angewiesen, selbst bei den kleinsten Kleinigkeiten. Solange das funktioniert hat, konnte man der Öffentlichkeit natürlich vormachen, daß alles stimmt. Die Wahrheit war aber eine andere: Tatsächlich ist die Bundeswehr immer wieder in Situationen gekommen, in denen die Amerikaner nicht helfen konnten, weil sie anderweitig gebunden waren. So bleiben die Kameraden dann ohne Luftunterstützung – mitunter mit tödlichem Ausgang.

Zum Beispiel?

Wohlgethan: Wären etwa beim berühmt gewordenen Karfreitagsgefecht bei Kunduz an Ostern 2010 die Amerikaner nicht gewesen, hätte es noch mehr Tote gegeben, als die drei deutschen Gefallenen, da US-Rettungshubschrauber unter feindlichem Beschuß deutsche Verwundete schnellstmöglich herausgeflogen haben. Deutsche Hubschrauber sind zur Zeit dazu nicht befähigt. Und nun wollen die USA gar abziehen. Inzwischen muß selbst der Minister zugeben, daß es dann eng wird. Ich gebe zu, zehn Jahre Krieg zu führen, ohne jemals voll einsatzfähig gewesen zu sein, klingt grotesk. Aber so ist es.

Gewisse Aufgaben werden von der Bundeswehr im Bündniseinsatz gar nicht erwartet. Muß man den Begriff „einsatzbereit“ heute noch auf hundert Prozent beziehen?

Wohlgethan: Na, selbstverständlich! Denn wenn die Regierung die Truppe in den Krieg schickt, muß gewährleistet sein, daß wir dort mit allem Nötigen operieren können und uns nicht darauf verlassen müssen, daß andere das für uns übernehmen. So eine Truppe ist für mich nicht voll einsatzbereit.

Ist das bei einer Mittelmacht wie Deutschland und dem heutigen Stand der Kosten für eine Armee überhaupt noch zu schaffen?

Wohlgethan: Für verantwortungsbewußte Planer kann der Maßstab für die Einsatzbereitschaft der Truppe nicht das Budget sein, sondern die Mission, in die sie sie schicken. Und es ist die Politik, die vorgibt, sie wolle eine Armee, die schnell und flexibel weltweit deutsche Interessen durchsetzen kann.

Minister Guttenberg hat doch ein „bestelltes Haus“ hinterlassen, wie er sich rühmte.

Wohlgethan: Was heißt „bestelltes Haus“? Er hat eine Reform auf den Weg gebracht, die besagt, Truppen zu reduzieren und zu spezialisieren. Gut, aber selbst das kostet Geld. Und Geld hat die Regierung für die Armee nun bekanntlich nicht übrig. Und so kann man schon jetzt sagen, daß auch diese Reform zum Scheitern verurteilt ist.

Die Truppe soll von 250.000 auf 185.000 Mann reduziert, die Einsatztruppenstärke von 7.000 auf 10.000 Mann erhöht, der Generalinspekteur aufgewertet und die Bürokratie des Ministeriums reduziert werden, wie die Eckpunkte der Reform lauten. Warum ist das nicht die Lösung?

Wohlgethan: Das ist alles nicht falsch, im Gegenteil. Aber ich vermisse den entscheidenden Punkt auf der Liste, nämlich zu investieren! Nach aller Erfahrung dienen Reformen der Bundeswehr vor allem dazu, im Haushalt Mittel zu sparen. Aber um eine wirklich einsatzbereite Armee zu bekommen, muß man Geld ausgeben!

Also wird die Politik das Problem auch in Zukunft nicht in den Griff bekommen?

Wohlgethan: Wir haben Arbeitslosigkeit, Hartz IV, Integrationsprobleme, überschuldete Haushalte, jetzt auch noch Griechenland und die Euro-Krise. Da fällt die Armee, mit ein paar tausend Mann, die irgendwo am Ende der Welt in einem Krieg kämpfen, für den sich hier keiner interessiert, natürlich immer hinten runter. So ist das.

Das heißt, eigentlich wollen wir allesamt die Bundeswehr gar nicht?

Wohlgethan: Wenn nicht gerade Hochwasser ist, halten die meisten Deutschen ihre Armee in der Tat potentiell für Geldverschwendung. Wenn aber einmal etwas passiert, wäre der Ruf nach ihr plötzlich ganz laut. Das Problem ist nur: Wer nicht vorsorgt, hat im Ernstfall auch keine Truppe. Denn eine einsatzfähige Armee kann man nicht aus dem Nichts aufstellen. Die hat man entweder ständig oder gar nicht.

Wie fühlten Sie sich als Angehöriger einer Truppe, die eigentlich keiner will?

Wohlgethan: Die Moral der Soldaten ist deshalb im Keller. Ich habe es selbst erlebt. Und dieses Desinteresse ist schon schlimm genug, aber richtig schlimm wird es, wenn, wie oft passiert, die Angehörigen – sogar die Kinder – in der Schule beschimpft, angepöbelt oder gar bedroht werden, weil Vater oder Mutter bei der Bundeswehr dienen.

Sie schreiben: „Ab dem Dienstgrad Oberst sind das keine Soldaten mehr, sondern karrierebewußte Leute, die nach oben wollen ... (und) diejenigen, die das ausbaden müssen, sind die Dienstgradniedrigeren.“

Wohlgethan: Haben Sie noch nie erlebt, daß hohe Offiziere erst dann Tacheles reden, wenn sie außer Dienst sind? Im Dienst ging dies nicht, da sie auf der Karriereleiter immer weiter kommen wollten. „Blutgruppenwechsel“ nannten wir es deshalb, wenn ein Offizier einen bestimmten Dienstgrad erreichte, ab dem die da oben ihm plötzlich wichtiger waren als seine Männer da unten.

Wird die Bundeswehr also von ihren Vorgesetzten verraten?

Wohlgethan: Verraten würde ich nicht sagen, und es gibt auch einige gute Vorgesetzte. Und es ist auch schwierig, sich als General unter Generälen durchzusetzen – denn auch ein General ist unter seinesgleichen oder gar gegenüber der Politik relativ machtlos. Aber ich sage mal, achtzig Prozent der hohen Vorgesetzten müßten nach meiner Ansicht ausgetauscht werden, und die zwanzig Prozent mit „Arsch in der Hose“ müßten endlich Klartext reden können, ohne dafür von der Politik abserviert zu werden.

Wie soll das gehen?

Wohlgethan: Es müßte eine gesellschaftliche Gruppe geben, die die Erfordernisse einer einsatzbereiten Armee und die Interessen der Soldaten mal ganz klar gegenüber der Politik und auch gegenüber der Bevölkerung vertritt!

Woher soll diese Gruppe kommen?

Wohlgethan: Das können nur Ehemalige, Einsatzerfahrene aller Dienstgradgruppen und Truppengattungen sein.

Für was kämpft der Soldat dann noch?

Wohlgethan: Bestimmt nicht für sein Vaterland, sondern für seine Familie.

Das müssen Sie erklären.

Wohlgethan: Der deutsche Soldat, das sage ich Ihnen ganz klar, kämpft nicht für Deutschland, das war einmal. Das machen heute vielleicht noch die Amerikaner, wo Patriotismus noch ein Wert ist. Aber der deutsche Soldat kämpft für seine Einheit, die seine Familie ist. Einer paßt auf den anderen auf, so muß man sich das vorstellen, das ist die Realität. Die Heimat interessiert sich nicht für ihre Jungs und die Jungs wollen heute nicht mehr für die Heimat sterben. Aber für ihre „Familie“, da tun sie alles, deshalb kämpfen sie.

 

Achim Wohlgethan der ehemalige Stabsunteroffizier diente von 1995 bis 2007 bei der Bundeswehr. Zweimal war er in Afghanistan stationiert: 2002 in Kabul und 2003 in Kunduz. 2008 und 2009 veröffentlichte er seine Erfahrungen in den Büchern „Endstation Kabul. Als deutscher Soldat in Afghanistan“ und „Operation Kunduz. Mein zweiter Einsatz in Afghanistan“ (beide Econ-Verlag). Für Aufmerksamkeit sorgten unter anderem Passagen wie diese: „Ich wurde Augenzeuge, wie Isaf-Soldaten testeten, ob das Gelände vermint war. Dazu winkten sie Kinder heran. Wenn diese losliefen und es keinen Knall gab, wurde dieses Feld als geklärt und unvermint betrachtet.“ Geboren wurde Wohlgethan 1966 in Wolfsburg, wo er heute als privater Sicherheitsberater tätig ist. Sein drittes Buch ist 2011 bei Bertelsmann erschienen: „Schwarzbuch Bundeswehr. Überfordert, demoralisiert und im Stich gelassen“. www.endstation-kabul.de

 

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