© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  40/11 / 30. September 2011

Aufschwung und Schwundquote
Physikstudium: Ein Drittel der Lehramtsstudenten wirft zu rasch das Handtuch
Klaus Siebold

Seit unvordenklichen Zeiten, in der Bonner Republik jedenfalls lange vor 1989, zählt die Beschwörung eines sinkenden naturwissenschaftlichen Interesses unter Schülern und Studenten zum Standardrepertoire bildungspolitischer Katastrophenszenarien. Ohne ausreichenden Nachwuchs an Ingenieuren, Informatikern, Mathematikern, Physikern und Chemikern, so lautet die plausible Mahnung, könne sich der Exportvizeweltmeister Deutschland, der Standort für hochtechnologische Marktführerschaft, schon mittelfristig nicht mehr in der ersten Liga der Industrienationen halten.

Mit Schwarmgeistern, die statt in die Labore in politologische Seminare strömen, mit Gender-Gedöns, Vergangenheitsbewältigung, multikultureller Gerechtigkeitspropaganda und ähnlichem akademisch drapiertem Zeitvertreib sei jedenfalls die Zukunft des Gemeinwesens nicht zu sichern. Grundsätzlich ist gegen solche Kassandrarufe nichts einzuwenden, weil sie die Bedeutung des naturwissenschaftlichen Humankapitals für die Wohlfahrt der Nation angemessen hoch veranschlagen. Doch gelegentlich lassen sich die wildesten Auswüchse solcher Untergangsangst nach einem Blick auf die Statistik kappen.

Es ist nämlich keineswegs so, daß der deutschen Jugend die Lust auf Natur und Technik vergangen ist. Was auch ein Verdienst des gewöhnlich unter kritischem Dauerbeschuß liegenden Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) ist. Obwohl der jüngste OECD-Bildungsreport eher das Gegenteil suggeriert, hat die gegenwärtig von Annette Schavan (CDU) geleitete Behörde im letzten Jahrzehnt eine Erfolgsgeschichte geschrieben, der andere Ressorts, man denke nur an Finanzen, Wirtschaft, Verteidigung und Auswärtiges, nicht einmal im Ansatz Gleichwertiges zur Seite stellen können.

Und es sind offenbar gerade die Naturwissenschaften, in der Spitzenforschung wie in der Nachwuchsförderung, die von den Anstrengungen der Ministerialbürokratie am meisten profitieren. So meldet René Matzdorf (Uni Kassel), Vorsitzender der Konferenz der 59 Fachbereiche Physik an deutschen Hochschulen (KFP), daß seit 2010 die Zahl der Anfänger im Physikstudium stark gestiegen sei (Physik Journal, 8-9/11). Deren Gesamtzahl (32.000) stagniere zwar, aber der Bachelorstudiengang Physik verzeichne mit 7.700 Studenten einen Zuwachs um 25 Prozent gegenüber 2009.

Das korrespondiert mit dem Zustrom in den Ingenieurswissenschaften, der seit 2008 ebenfalls im zweistelligen Bereich liege. Über die Ursachen sagen die regelmäßigen KFP-Erhebungen freilich wenig aus. Sie könnten Frucht der kontinuierlichen BMBF-Förderungen und der Aktivitäten der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG) sein. So wurde der Abiturpreis der DPG mittlerweile an 30.000 Schüler verliehen.

Und das ist nur eine von vielen Initiativen zur Belebung schon des pubertären Naturforscherdrangs. Fest steht immerhin: 90 Prozent der Preisträger 2007 studieren heute ein „MINT“-Fach (Mathematik, Ingenieurs-, Naturwissenschaften und Technik). Ein Drittel davon wandelt sogar auf den Spuren von Angela Merkel, Oskar Lafontaine und Reiner Haseloff (Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt) – sie studieren das anspruchsvolle Fach Physik.

Ob damit Matzdorfs frohe Botschaft „Physik im Aufwind“, unter der das aktuelle KFP-Zahlenwerk segelt, gerechtfertigt ist, erscheint indes zweifelhaft. Bietet es doch routinierten Unkenrufern einige Nahrung. Wie Matzdorf selbst einräumt. Einen dunklen Schatten auf die erfreuliche Bilanz wirft nämlich die „konstant hohe Abbrecherquote“. Und zwar vor allem bei den Lehramtsstudiengängen. Die „Schwundquote“ liegt hier bei 31 Prozent und übertrifft noch die Abbrecherquote bei den Bachelors um sechs Prozent.

Also ein Drittel der Physikeinsteiger wirft bereits nach dem dritten Semester das Handtuch. Bei den Physik-Studentinnen, deren Anteil an der Gesamtzahl sich auf traditionell niedrige 25 Prozent beläuft, ist die Neigung, vor den Mühen der naturwissenschaftlichen Ebene zu kapitulieren, erwartungsgemäß noch höher. „In Anbetracht des eklatanten Mangels an Physiklehrern“ könne diese Entwicklung aber nicht hingenommen werden.

Die DPG bereitet daher eine Analyse der Lehrerausbildung in Physik vor, die Empfehlungen für ein Gegensteuern vorlegen soll. Jedenfalls sei das Mißverhältnis zwischen den 14.000 Lehramtsstudenten, die zwischen 1995 und 2006 ihr Studium aufnahmen, und den 4.200 erfolgreichen Abschlüssen einfach zu kraß, um den Dingen ihren Lauf zu lassen. Keine Frage, daß Matzdorfs Zahlen ungeachtet aller kulturpessimistischen Prognosen eine dank vielfacher und früher Förderung erstaunlich ungebrochene Bereitschaft dokumentieren, „Schwafelfächer“ zugunsten der Naturwissenschaften zu meiden. Jedoch scheint von der Studienrealität bislang eine derart desillusionierende Wirkung auszugehen, daß aller „Aufschwung“-Rhetorik zum Trotz Physiker in Lehre, Forschung und Praxis weiterhin als bedrohte Art zu gelten haben.

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