© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  40/11 / 30. September 2011

Christliches Menschenbild
Poröser Kitt
Johannes Rogalla von Bieberstein

Auf dem Kirchentag definierte Angela Merkel 2010 das „christliche Menschenbild“ als den „Urgrund, aus dem heraus wir Politik machen“. Für sie ist dieses Bild „das, was uns ausmacht“. Während es für den einstigen CDU-Generalsekretär Heiner Geißler den „Markenkern“ der Partei konstituiert, pries es der Landesvorsitzende der CDU Baden-Württemberg, Thomas Strobl, als „unser Alleinstellungsmerkmal“. Gleichwohl räumte er ein, daß die Christdemokraten sich „nicht einmal ihrer fundamentalsten Werte“ sicher seien.

Dies besagt nichts weniger, als daß die CDU, die nach ihrem Fraktionsführer Volker Kauder „Politik auf der Grundlage des christlichen Menschenbildes“ macht, ihrem „Kompaß“ doch nicht ganz zutraut, immer den richtigen Weg zu weisen. Da nun dieses Bild von Kauder als „Band“ beschworen wird, „das unsere Volkspartei eint“, lohnt es sich, diesem vielberufenen „Dreh- und Angelpunkt der christdemokratischen Idee und der Politik der Union“ (Konrad-Adenauer-Stiftung) Aufmerksamkeit zu schenken. Immerhin konnte Angela Merkel 2010 in einer von ihren Gegnern verspotteten Aussage schroff urteilen, wer das christliche Menschenbild nicht akzeptiere, „ist bei uns fehl am Platz“.

Die Rede vom Menschenbild stammt aus der Anthropologie und ist ziemlich neu. Sie hebt darauf ab, welches Bild sich Christen vom Menschen subjektiv zeichnen und unterstellt, daß CDU-Leute hierfür ein Bedürfnis haben. Es ist also keinesfalls identisch mit dem, was die Bibel als Heilige Schrift sowie die Bekenntnistexte von Christen erwarten und ihnen verheißen. Somit eröffnet dieses schwer greifbare Menschenbild breite Spielräume in einer zunehmend immer weniger christlich gesinnten Welt.

Noch im Programm der CDU für die Britische Zone von 1946 hieß es, daß die „christliche Ethik“ an die Stelle der „nationalsozialistischen Weltanschauung“ treten müsse. Dem stellte auf der anderen Seite der Mauer die SED 1968 das „sozialistische Menschenbild“ gegenüber. Dabei beriefen sich die SED-Ideologen der Karl-Marx-Universität Leipzig auf den Humanismus, der „dem theologisch-mittelalterlichen Menschenbild“ entgegengesetzt sei.

Heiner Geißler destillierte aus dem christlichen Menschenbild „die Konzeption einer internationalen sozialökologischen Marktwirtschaft“. Angela Merkel selbst hatte bis 2010 für die Verlängerung der Laufzeiten der Kernkraftwerke gekämpft und dabei den Grünen eine „ideologiegetriebene“ Energiepolitik vorgehalten. Daraufhin wurde sie vom ehemals kommunistisch gesinnten Grünen-Frontmann Jürgen Trittin in Agitprop-Manier als „Kaltmamsell der Atomwirtschaft“ verunglimpft. Dieses Odium hat sie so getroffen, daß sie nach Fukushima eine atemberaubende Volte schlug. Im europäischen Alleingang blies sie dieser Industrie das Lebenslicht aus und verkündete urplötzlich nach einer für die Verbraucher teuren Erleuchtung, ihre ergrünte Energiepolitik hätte das christliche Menschenbild „zur Basis“.

Für den Kölner Erzbischof Jo  achim Kardinal Meisner ist das christliche Menschenbild daher längst „zur bloßen Formel verkommen“. Nur der dürfe sich christlich nennen, der sich „auf Christus beziehe“. Nach ihm berufen sich christliche Politiker „auf ein nebulöses christliches Menschenbild“, das sich „nicht mehr am christlichen Gottesbild orientiert“. Damit sind keineswegs nur solche der Union, sondern zugleich „grüne“ und sozialdemokratische Vertreter der linksvernetzten evangelischen Kirche angesprochen. All diese haben sich weit von der Treue zur Bibel als eines „papierenen Papstes“ entfernt.

Da sich der überkommene christliche Glaube bei vielen „auf ein Minimum reduziert“ hat, konnte der Züricher Sozialethiker Johannes Fischer zum Streit über die Präimplantationsdiagnostik sarkastisch bemerken, das dehnbare christliche Menschenbild sei zur „höchsten Instanz“ der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) geworden. Man trage es „wie einen Götzen vor sich her“. Tatsächlich ist es für Christen höchst widersprüchlich, daß man zwar quicklebendige Föten im Mutterleib massenweise abtreiben darf, jedoch Paaren mit erblichen Krankheiten nicht dabei helfen soll, ein gesundes Kind zu bekommen. Es ist unübersehbar, daß das christliche Menschenbild bei vielen als Alibi für eine Glaubhaftmachung einer christlichen Einstellung herhalten muß, die man in der Abtreibungsfrage opportunistisch aufgegeben hat.

Die EKD und ihre Synoden werden seit Jahren von Frauen und Männern dominiert, die den Sozialdemokraten und Grünen näherstehen als der CDU. Hier sei nur auf die Synodalpräsidentin der EKD, die grüne Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt, aber auch auf ihre Amtsvorgängerin Antje Vollmer verwiesen, die sich als evangelische Pfarrerin in der maoistischen „Liga gegen Imperialismus“ betätigte. Auch bei den Katholiken sind Grüne im Vormarsch, wofür der Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann steht, der dem Zentralkomitee der Deutschen Katholiken angehört und früher im Kommunistischen Bund Westdeutschlands aktiv war.

Das positive Image des Christentums strahlt – nicht zuletzt wegen des Zugriffs der Kirchen auf Steuergelder – in einstmals antichristliche, linke Parteien bis zu den SED-Nachfolgern hinein, die spezielle Arbeitsgemeinschaften formiert haben, um „Christinnen und Christen“ zu binden. Für sie, aber auch für manch andere Anrufer des christlichen Menschenbildes steht allerdings mehr das „Sozialheil“ als das „Seelenheil“ im Vordergrund. Mit Dorothee Sölle („Politisches Nachtgebet“) preisen viele „progressive“ Christen Jesus als angeblichen „Revolutionär“, wohingegen sie „Christus“, also den Heiland und Erlöser, als „Reaktionär“ verwerfen. Ebenso wie Atheisten pflegen Linkschristen solche CDU-Leute zu verhöhnen, die ein christliches Menschenbild als „Alleinstellungsmerkmal“ der Union reklamieren.

Die zentrale Bedeutung von Christus als wiederauferstandener Gottessohn kommt in den Erläuterungen des christlichen Menschenbildes praktisch nicht vor. Deshalb gelangte der Theologe und Sozialwissenschaftler Wolfgang Ockenfels in einem Aufsatz über die Identität der CDU zu dem Schluß, daß vom „C“ in diesem Menschenbild nur ein „schwacher Aufguß“ bleibe. Denn es beschränke sich auf eine rhetorische Beschwörung hehrer Werte wie Menschenwürde, Ehe und Familie. Somit scheint das christliche Menschenbild nicht viel mehr als der politische „Kitt“ zu sein, der eine heterogene Volkspartei zusammenhalten soll. Zur CDU gehören mittlerweile auch Türken, gegen die vielerorts keine Mehrheiten mehr gebildet werden können. Bülent Arslan hat 2009 als Vorsitzender des Deutsch-Türkischen Forums der CDU in Nordrhein-Westfalen die provokante These vertreten, daß das christliche und das muslimische Menschenbild „übereinstimmen“.

Für Christen und Muslime sei der Mensch von Gott geschaffen, einzigartig und verfüge über eine unantastbare Würde. Arslan beschönigt bei der Herausarbeitung dieses Minimalnenners sogar die christliche Situation, indem er behauptet, das christliche Menschenbild mit seiner Ablehnung der Abtreibung sei „natürlich ein Menschenbild, das mit einem „konservativen türkischen oder auch muslimischen voll übereinstimmt“.

Der Befund ist eindeutig: Vom christlichen Menschenbild als einem Alleinstellungsmerkmal der CDU bleibt wenig übrig. Bei Licht besehen handelte es sich nämlich um universelle, also parteipolitisch neutrale Werte. Politiker, die das diffuse christliche Menschenbild als Kompaß im Getriebe der Politik, ja als angebliche Legitimation für strittige Einzelentscheidungen anrufen, nehmen in Kauf, daß Christen – fromme wie säkulare – durch solch offenkundige, zuweilen willkürlich erscheinende Instrumentalisierung der Religion verstimmt werden. Denn eine autoritär als „alternativlos“ ausgegebene Argumentation irritiert, auch wenn sie „religiös“ einherkommt. Mündige Christen möchten nicht zugunsten rot-grüner Politik, etwa in der Energiefrage, gleichsam neoklerikal bevormundet werden.

Das Unbehagen an der Aufblasung des christlichen Menschenbildes zum „zentralen Orientierungspunkt der CDU“, der „alle Gruppen zusammenführt“ und die Union als „Partei der Mitte“ (Hermann Gröhe) präge, wird immer wieder artikuliert. Der Begriff bleibt nicht zufällig in den besorgten Ausführungen Erwin Teufels über die „Lage der CDU“ außen vor. Für Teufel spielen „christliche Inhalte“ immer weniger eine Rolle. Die Politlyrik vom christlichen Menschenbild, das angeblich das „christliche Erbe wie in einem Brennglas versammelt“, ist auch dem nüchternen Macher Wolfgang Schäuble fremd. Er brüskierte die Parteiideologen, die sich am Leitbild abarbeiten, mit dem Satz: „Das christliche Menschenbild ist einfach zu erklären. Wir versuchen die Menschen so zu nehmen, wie sie sind.“

Seit ein paar Jahren wird die Rede vom christlichen Menschenbild ergänzt durch das Betonen der „jüdisch-christlichen“ Wurzeln von Europa. Karl Kardinal Lehmann, Wolfgang Huber und Angela Merkel vermissen die Herausstellung dieses Erbes als Quelle Europas. Dieses „jüdisch-christliche Menschenbild“ erweist sich als Konstrukt der Political Correctness nach „Nine Eleven“. Es begegnet uns zum Beispiel im „Lexikon der Christlichen Demokratie“ als „jüdisch-christliches Verständnis“ vom Menschen. Dabei wird lediglich auf die Schöpfungsgeschichte des Alten Testaments abgehoben. Das Neue Testament mit der Frohen Botschaft von Jesus Christus bleibt außen vor.

Somit wird der „essentielle Konflikt“ zwischen Christen und Juden, von dem der Judaist Gershom Scholem spricht und der sich in einer langen Zurücksetzung und Verfolgung der Juden als „Christusmörder“ manifestierte, „politisch korrekt“ überspielt. Der Generalsekretär des Zentralrats der Juden argwöhnt in der „kaum nachvollziehbaren Vehemenz“, mit der man sich neuerdings auf das „christlich-jüdische Fundament Deutschlands“ bezieht, sogar den „durchsichtigen Versuch, das Judentum gegen den Islam in Stellung zu bringen.“ Nach Theodor Heuss sind die geistigen Grundlagen Europas auf den drei Hügeln der Akropolis, des Kapitols und Golgathas gelegt worden. Ihnen muß noch die Aufklärung zugefügt werden, die der Folter und der Verbrennung von Ketzern und Hexen ein Ende bereitete sowie der Freiheit der Wissenschaft und den Menschenrechten zum Durchbruch verholfen hat. Der Präsident der deutschen Paneuropa-Union, Bernd Posselt, hat es „jämmerlich“ genannt, daß solch fundamentale Dinge im Zuge der Reduktion des geistigen Gesichts der CDU auf ein blasses christliches Menschenbild unterschlagen werden.

Eine Äußerung der Vizepräsidentin der Evangelischen Kirche im Rheinland, Petra Bosse-Huber, macht anschaulich, wie die Vagheit des christlichen Menschenbildes seinen Mißbrauch begünstigt. Ihr christliches Menschenbild lasse sie die Kampagne „Wuppertal gegen Rechts“ unterstützen. Dabei spulte die Kirchenbeamtin das gesamte rot-grüne Programm ab. Es dürfte ihr kaum verborgen geblieben sein, daß für die Linken die „bösen“ Rechten vor allem in der CDU und in der Papstkirche beheimatet sind.

 

Dr. Johannes R. von Bieberstein, Jahrgang 1940, Historiker, war als Bibliotheksdirektor tätig und hat mehrere Sachbücher veröffentlicht. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Gender Mainstreaming („Erbe des Klassenkampfes“, JF 26/08).

Foto: Adam und Eva: In Öl auf Leinen interpretiert Danny C. Sillada (2003) den Sündenfall der ersten Menschen – ein zentrales Motiv des biblisch tradierten christlichen Menschenbildes – aufs neue

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen