© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  40/11 / 30. September 2011

Sie kamen als Eindringlinge
Frankreich: Drei Ausstellungen künden vom Selbstbewußtsein der Normandie
Karlheinz Weissmann

In diesem Jahr feiert die Normandie ihren 1100. Gründungstag. 911 schloß der westfränkische König Karl III. einen Vertrag mit Rollo, dem Anführer der Wikinger aus Dänemark und Norwegen, die sich an der Nordküste seines Reiches festgesetzt hatten. Durch das Abkommen von Saint-Clair-sur-Epte erkannte Karl den Status quo an, der einen Teil seines Herrschaftsgebiets faktisch Invasoren auslieferte, die im Gegenzug ihre Überfälle auf das Herzland einstellten und ein Bollwerk gegen weiter nachdrängende Krieger- und Siedlerscharen aus Skandinavien bildeten.

Die Integration des Herzogtums Normandie in den allmählich entstehenden französischen Staat verlief erfolgreich. Eine Ursache dafür lag in der Tatsache, daß die Eindringlinge fast ausschließlich Männer waren, die sich einheimische Frauen nahmen. Allerdings behielt die Normandie bis ins späte Mittelalter eine Sonderstellung: Von hier aus unterwarf Herzog Wilhelm „der Eroberer“ 1066 England und schuf jenes Reich zu beiden Seiten des Kanals und auf dem Kontinent bis an die Pyrenäen reichend, das eine Großmacht mit ganz eigenem Gepräge war.

Der besondere Zug ihrer Geschichte erklärt viel vom Selbstbewußtsein der Normannen, das auch in den Veranstaltungen zum diesjährigen Jubiläum zum Ausdruck kommt. Neben zahllosen Vorträgen, Kongressen und Stadtfesten verdienen vor allem drei Ausstellungen Beachtung.

Verläßt man Bayeux, wo eine Ausstellung im dortigen Musée Tapisserie unter anderem den berühmten Teppich mit der Darstellung des Kriegszugs gegen England zeigt, in Richtung Osten, kommt man bald nach Caen, in dessen Zentrum die alte Burg der normannischen Herzöge steht, die heute das Landesmuseum beherbergt. Ohne Zweifel findet man dort die wichtigste Sammlung zur Geschichte der Region. In diesem Jahr wartet das Musée de Normandie aber noch mit einer Besonderheit auf. Unter dem Titel „Russie viking – vers une autre Normandie?“ präsentiert Caen bisher noch nie außerhalb Rußlands gezeigte Stücke zur Geschichte der „Waräger“ und der von ihnen um Nowgorod gegründeten „Rus“. Von den Waffen, Schmuck- und Alltagsgegenständen der skandinavischen Aristokratie aus Kriegern und Händlern, die ganz den Mustern der alten Heimat entsprachen, bis zu den Geräten und Kleidungsstücken der unterworfenen Slawen entfaltet sich hier eine fremde Welt, beeinflußt vom barbarischen Norden wie vom karolingischen Europa wie von Byzanz.

Die im Titel der Ausstellung aufgeworfene Frage „Hin zu einer anderen Normandie?“ wird in Caen insofern beantwortet, als man weder das Bild eines Herrenvolks zeichnet, das die Einheimischen knechtete, noch der in der Sowjetzeit verbreiteten These folgt, wonach die Waräger für die Geschichte des mittelalterlichen Rußland im Grunde bedeutungslos gewesen seien. Tatsächlich sind die Parallelen in der Entwicklung der Rus und der Normandie auffallend. Hier wie dort kamen die Normannen als Fremde, in einem Fall als Eroberer, im anderen als bewaffnete Kaufleute, in beiden Fällen setzten sie sich fest und bildeten eigene Staaten. Im Westen geschah das in Auseinandersetzung mit bestehenden Formationen, während im Osten der Waräger Rurik von den Slawen gerufen wurde, um sie zu regieren und zu beschützen (eine im Kern legendenhafte Überlieferung, der heute allerdings wieder Plausibilität zugestanden wird).

Ohne Zweifel lag das kulturelle Niveau der Normannen unter dem der Franken, aber über dem der Slawen, hier wie dort fand erst allmählich eine Verschmelzung der ethnischen Gruppen wie der Kulturen statt, wobei die Christianisierung eine wichtige Rolle als Schrittmacher spielte und die sprachliche Assimilation der Wikinger in überraschend hohem Tempo vonstatten ging. Zu betonen ist aber vor allem anderen, daß die Normannen in beiden Fällen ein unerwartetes Maß an politischem Genie bewiesen, das man aufgrund der anarchischen Verhältnisse in ihren Herkunftsgebieten kaum erwarten durfte.

In einem eigenen Teil befaßt sich die Ausstellung in Caen zuletzt noch mit der Bedeutung des Warägererbes für das russische Geschichtsbild. Es kann nicht überraschen, daß dabei eine gewisse Ambivalenz festzustellen ist. Bis zum Untergang des Zarenreichs spielte vor allem eine Rolle, daß der Großfürst Wladimir I., ein Urenkel Ruriks, die Taufe genommen hatte und man eine dynastische Kontinuität bis in die Gegenwart behaupten konnte. Der russische Nationalismus, der seit dem 18. Jahrhundert entstand, tat sich dagegen schwer mit dieser Überlieferung und neigte immer zu einer slawophilen Tendenz, die die Bedeutung der Fremden für den eigenen geschichtlichen Aufstieg möglichst klein hielt. Nach der bolschewistischen Machtübernahme wurde diese Richtung noch verstärkt, bis hin zu einem regelrechten Forschungsverbot in bezug auf alles, was Gefahr lief, die Rolle der Waräger hervorzuheben.

In dieser Hinsicht ist nach dem Untergang des Sowjetsystems eine deutliche Entspannung eingetreten. Es gibt sogar wieder eine Neigung zu romantischer Verklärung der Rurikiden und ihrer Herrschaft. Davon abgesehen steht „Waräger“ im heutigen Rußland für jenen Typ Manager oder Geschäftsmann, der von außen kommt und in die maroden Verhältnisse mit Strenge, notfalls Brutalität, das richtige Maß an Ordnung bringt.

Von solchen oder ähnlichen Bezugnahmen auf die Vergangenheit ist man in der Normandie weit entfernt. Man bemüht sich fast verkrampft, jede „völkische“ Reminiszenz zu meiden und mit dem Slogan „Happy birthday Normandie“ nicht nur die große Zahl englischer Touristen zu werben, sondern auch die eigene Weltläufigkeit unter Beweis zu stellen. Schon deshalb bildet eine kleine Ausstellung im Fremdenverkehrsamt der Hauptstadt Rouen einen interessanten Kontrast. Sie befaßt sich mit den Feiern vor einhundert Jahren zum 1000. Gründungstag der Normandie 1911, die noch mit ganz anderem Aufwand als die gegenwärtigen begangen wurden. Was in Rouen an Plakaten, Postkarten, Fotografien und Schriften zusammengetragen wurde, vermittelt zuerst das Bild großer Naivität in der Aneignung des historischen Erbes. Aber es beeindruckt doch auch der ungebrochene Enthusiasmus, mit dem man im Kostümzug die eigene Geschichte darstellte, der Einsatz des Bürgertums für die Pflege der regionalen Vergangenheit, der Versuch, besondere Beziehungen zu Skandinavien, der alten „Heimat“, herzustellen, und die Überzeugung, daß der normannische Freiheitssinn erhalten bleibe und es stets darum gehe, sich der „tapferen Rasse unserer Vorfahren“ würdig zu erweisen, wie es der damalige Bürgermeister von Rouen – eine Stütze der republikanischen Bourgeoisie – in einer Rede forderte.

So verfängliche Äußerungen sind heute natürlich undenkbar, und die Reklame für das Jubiläum ist brav multikulturell mit Menschen aller Hautfarben illustriert – immerhin stehen sie an Bord eines Drachenschiffs.

Die Ausstellung „Russie viking – vers une autre Normandie?“ ist noch bis zum 31. Oktober im Musée de Normandie in Caen zu sehen. Der sehr empfehlenswerte Katalog steht nur in französischer Sprache zur Verfügung und kann über den internationalen Buchhandel für etwa 30 Euro bezogen werden.

www.russie-viking.eu

Die Ausstellung „Quand Rouen fêtait le Millénaire Normand“ über die Tausendjahrfeier ist im Innenhof des Fremdenverkehrsamts Rouen zu besichtigen. Der Katalog enthält die meisten Abbildungen, aber nicht die Texte der Präsentation und kostet vor Ort 15 Euro.

Die Ausstellung im Musée Tapisserie de Bayeux ist noch bis zum 31. Dezember zu sehen. www.tapisserie-bayeux.fr

Foto: Wladimir Samsonow, Hilferuf an die Waräger (Ausschnitt): Forschungsverbot in der Sowjetunion zur Rolle der Waräger

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