© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  40/11 / 30. September 2011

Ein titanischer Weltverbesserer
Großartiger Zyklus: Rudolf Buchbinder spielt die Beethoven-Sonaten neu und live ein
Markus Brandstetter

Beethoven hat eine Oper, 9 Symphonien, 18 Streichquartette und 32 Klaviersonaten geschrieben. So wie für Haydn das Streichquartett und für Mozart die Symphonie die zentrale Gattung war, war es für Beethoven die Klaviersonate. In den Sonaten hat er alles ausgedrückt, was ihn in dreißig Jahren bewegt, bedrückt und betroffen hat. Er hat sie den Frauen gewidmet, in die er unglücklich verliebt war; in ihnen hat er dem Schicksal gedankt, als er eine Gelbsucht überstanden hatte; und er hat zum Beispiel in der Les-Adieux-Sonate erst getrauert, als sein Schüler, Gönner und Freund Erzherzog Rudolf wegen Napoleon 1809 Wien verlassen mußte, und sich überschwenglich gefreut, als er wieder zurückkehrte.

Nur zwei Sonaten wurden zu Beethovens Lebzeiten im Konzert gespielt, den Klavierabend gab es noch nicht, den mußte Liszt erst noch erfinden. Dreißig Jahre hat es nach Beethovens Tod gedauert, bis 1865 endlich alle Sonaten im Konzert erklangen; in London, nicht in Wien, gespielt von Charles Hallé, der ihnen technisch nicht gewachsen war. Aber von da an gab es kein Halten mehr. Hans von Bülow spielte alle Sonaten an vier Abenden hintereinander (moderne Pianisten brauchen dazu sieben), die fünf späten Sonaten an einem Abend, und das alles viele Male von Wien über London bis Chicago.

Seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert gab es weltweit mindestens 30 Pianisten, die mit allen Beethoven-Sonaten tourten. In den 1930er Jahren wurde die Spieldauer einer Schallplatte endlich so lange, daß ganze Sonatensätze aufgezeichnet werden konnten. 1931 ging Arthur Schnabel als erster ins Studio, um alle Sonaten aufzunehmen, und schuf gleich ein Meisterwerk: Obwohl Schnabel ab und zu gewaltig danebengriff, legte er eine Einspielung vor, die bis heute im Handel ist und für Generationen von Pianisten die Referenzaufnahme schlechthin wurde.

Seit den 1950ern erscheint alle paar Jahre eine neue Gesamtaufnahme. Alfred Brendel hat den ganzen Zyklus viermal auf Schallplatte, eingespielt, Wilhelm Kempf, Friedrich Gulda und Daniel Barenboim jeweils zweimal. Inzwischen gibt es mehrere Live-Gesamtaufnahmen und mindestens zwei auf historischen Instrumenten; zwanzig oder dreißig dieser Boxen sind jederzeit im Handel erhältlich. Braucht die Welt also wirklich eine neue Gesamteinspielung der Beethoven-Sonaten? Und noch dazu von Rudolf Buchbinder, der sie vor dreißig Jahren ja schon einmal – und bereits damals herausragend – aufgenommen hat? Die Antwort ist: ja und wie! Denn diese Einspielung ist ein Meisterwerk.

Fangen wir mit den Tempi an. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat es sich durchgesetzt, Beethoven vergeistigt, intellektuell und moderat zu spielen: Ja nicht zu schnell, bloß kein Fortissimo, nicht schroff, nicht wild, nicht lustig (Nr. 16 G-Dur), nicht herzzerreißend – und wenn es hundertmal anders in den Noten steht. Früher hießen die Vertreter dieser Richtung Brendel, Barenboim, Ashkenazy und Kempf, heute heißen sie András Schiff, Paul Lewis oder Angela Hewitt. Sie alle spielen kultiviert, beherrscht und technisch makellos, bieten aber allzu oft nur Langeweile auf hohem Niveau. Die große Ausnahme war immer Friedrich Gulda. Der war 1968 in ein Wiener Studio gegangen und hatte die Sonaten dermaßen wild, frisch, schnell und zupackend heruntergefetzt, daß die Aufnahme über Nacht zum Klassiker wurde und es bis heute geblieben ist.

Der österreichische Pianist Rudolf Buchbinder steht in genau dieser Tradition. Seine Tempi sind straff, seine dynamischen Kontraste jäh, schroff und heroisch, und nie verwandelt er ein Andante oder Adagio in ein dahingeschlepptes Largo. Jedes Crescendo wird ausgespielt, Beethovens enorme Palette dynamischer Unterschiede fein abgestuft herausgearbeitet, jedes Rinforzando ist zu hören, und da, wo zum Beispiel Brendel im Largo e mesto der Sonate Nr. 7 (in D-Dur Op. 10 Nr. 3) statt eines „ff“ gerademal ein Mezzopiano zustande spielt, hält Buchbinder sich getreu an den Notentext.

In den großen Namenssonaten (Waldstein, Appassionata, Hammerklavier) bleibt Buchbinder in den schnellen Ecksätzen bis zu einer Minute und mehr unter den Zeiten mancher Plüschsessel-Pianisten, was uns zeigt, daß Beethoven kein Biedermeier-Poet unter einem durchlöcherten Regenschirm, sondern ein titanischer Weltverbesserer war. Wer Buchbinders Aufnahme der enorm schwierigen Johann-Strauss-Paraphrasen kennt, der weiß, daß Buchbinder immer einer der größten Techniker überhaupt war und sich vor Supervirtuosen wie Stephen Hough, Piers Lane oder Marc-André Hamelin nie zu verstecken brauchte. Kein Wunder also, daß die gefürchteten Oktaven-Glissandi im letzten Satz der Waldstein-, der Kopfsatz der Hammerklavier- und natürlich das Vivacissimo der Les-Adieux-Sonate vor Brillanz geradezu funkeln.

Buchbinder ist für diese Einspielung im Notentext bis zu den Handschriften zurückgegangen. Das merkt man. Die kurzen Vorschläge, die von praktisch allen Pianisten als unbetonte Nebennoten vor der Hauptnote genommen werden, spielt auch Buchbinder manchmal so, aber öfter spielt er sie, ihrer barocken Herkunft eingedenk, als betonte Noten, die der Musik einen neuen Sinn verleihen (gut zu hören im Schlußsatz von Nr. 26 in Es-Dur op. 81a).

Auch wenn Beethoven schon als Elfjähriger Bachs Wohltemperiertes Klavier spielte, wurde seine Schreibweise doch erst in seiner Spätphase durchweg kontrapunktisch. Buchbinder meißelt die polyphone, vertikale Denkweise aus den Sonaten heraus wie kein anderer seit Glenn Gould; man hört plötzlich Unter- und Mittelstimmen, über die andere hinwegspielen. Durch diese polyphone Spielweise gelingt es Buchbinder doch glatt, einem Schmachtfetzen höherer Töchter wie dem Adagio cantabile der Pathétique (Nr. 8 in c-Moll Op. 13) neue Aspekte abzugewinnen.

Nicht alles an dieser Aufnahme ist gut. Die Sonaten wurden in der Saison 2010/11 an sieben Vormittagen in der Dresdner Semperoper live und ausgesprochen laut aufgenommen, immerhin stört kein Husten und kein Klatschen. Trotz der berühmten Akustik des Opernhauses klingen die hohen Töne, besonders bei Trillerketten, mitunter schrill und spitzig, was auf einen zu geringen Nachhall hindeutet.

Buchbinder spielt auch nicht alle Wiederholungen, was zum Beispiel im fugierten Presto von Nr. 6 in F-Dur (Op. 10 Nr. 2) die Entfaltung der Themen stört, und das Andante favori, den einstigen langsamen Satz der Waldstein-Sonate, hätte man auch gerne gehört. Endlich: Auch wenn dies eine preisgünstige Aufnahme ist, hat der Käufer trotzdem ein Anrecht auf ein Begleitheft, in dem die Sonaten und ihre Geschichte erklärt werden.

Aber das sind Kleinigkeiten, die am Gesamteindruck nichts ändern: Hier haben wir die interessanteste Neueinspielung der Beethoven-Sonaten seit Jahrzehnten vor uns.

Foto: Ludwig van Beethoven, gemalt von Joseph Karl Stieler, 1820: Den Frauen gewidmet; Beethoven: The Sonata Legacy Rca Red Seal (Sony Music) www.sonymusic.de

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