© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  39/11 / 23. September 2011

Imperien der alten Welt
Der britische Historiker John Darwin untersucht das Aufstreben und Vergehen der Mächte in Europa und Asien in der Neuzeit
Erich Weede

Der britische Historiker John Darwin behandelt die Weltgeschichte der letzten sechs Jahrhunderte. Das Buch ist in neun Kapitel gegliedert, wobei das erste sich mit theoretischen Ansätzen zur Erklärung des Aufstiegs des Westens auseinandersetzt, ohne sich aber auf eine Theorie festzulegen oder eine eigene Synthese vorzuschlagen. Außerdem wird die Ausgangslage der großen Reiche und Zivilisationen im 15. Jahrhundert beschrieben: Von europäischer Überlegenheit noch keine Spur.

Die eurasische Perspektive Darwins wird bei genauerer Betrachtung in seinem Werk zu einem Wettbewerb zwischen dem westlichen und dem östlichen Ende Eurasiens, zwischen Europa und Fernost, was in Anbetracht des schnellen Aufstiegs Chinas als aktuelle Perspektive einleuchtet. Schon angedeutet wird, was Europa groß gemacht hat: die Bereitschaft zur organisierten Gewalt und zur Aneignung bzw. Expropriation. Im zweiten und dritten Kapitel geht es um das Zeitalter der Entdeckungen und die Zeit bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Nur in der Seekriegführung war Europa bereits Asien überlegen. Die Ausbeutung amerikanischer Silberminen und die zumindest teilweise aus asiatischem Desinteresse resultierende Überlegenheit europäischer Seefahrer hat es den Europäern erlaubt, vor allem in südasiatischen Küstenregionen Fuß zu fassen und Handel zu treiben.

Im vierten Kapitel wird die große Umwälzung der eurasischen Machtverhältnisse Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts beschrieben. Entscheidend waren für Darwin die Ausschaltung Frankreichs als überseeischer Konkurrent Großbritanniens im Siebenjährigen Krieg, die Unterwerfung Indiens durch die Briten und damit die Möglichkeit, über indische Exporte auf dem chinesischen Markt Fuß zu fassen. Auch die andere europäische Flügelmacht, Rußland, konnte ihre Position in Asien festigen, womit China von den europäischen Mächten in die Zange genommen wurde. Darwin wirft zwar die Frage auf, warum sich die industrielle Revolution zuerst in Großbritannien und nicht etwa in China ereignete, gibt aber keine Antwort. Jedenfalls vertritt er nicht die wirtschaftsliberale Auffassung, wonach sich in Europa die sichereren Eigentumsrechte, der härtere Wettbewerb und die besseren Arbeitsanreize als in Asien durchgesetzt hatten.

Im fünften und sechsten Kapitel wird die große Divergenz zwischen Europa und Asien analysiert, die zunehmende technologische, wirtschaftliche und militärische Überlegenheit der Europäer gegenüber den Asiaten, das Freihandels-imperium der Briten, die Entstehung kultureller und rassistischer Mythen zur Überlegenheit der Europäer und zur Rechtfertigung der Kolonialherrschaft. Klarer als die internen Gründe für die zunehmende Macht der europäischen Staaten werden die außenpolitischen Gründe, die am Ende des 19. Jahrhunderts die aus europäischer Sicht weitgehend friedliche Aufteilung Afrikas erlaubt hatten. Nach der Niederlage Napoleons vermieden die europäischen Großmächte lange und blutige Kriege untereinander.

Mit dem Ersten Weltkrieg und der daraus resultierenden ersten Schwächung Europas wurde eine einvernehmliche Aufteilung Chinas oder des Nahen Ostens unter den europäischen Mächten unmöglich. In den asiatischen Staaten begann Ende des 19. Jahrhunderts ein Wettlauf mit der Zeit. Die Staaten mußten durch Reformen widerstandsfähiger werden, was zunächst nur Japan gelang, das selbst Anfang des 20. Jahrhunderts zur imperialistischen Macht aufgestiegen ist.

Im siebten und achten Kapitel werden die Weltkriege und die Weltwirtschaftskrise behandelt. Darwins These, daß die Überlegenheit der Europäer über den Rest der Welt zunehmend davon abhing, daß sie untereinander keine großen Kriege führten, dürfte unstrittig sein. Das gilt auch für seine Analysen zum zunehmenden weltwirtschaftlichen Gewicht der USA, zur Entkolonialisierung und Bipolarität. Bei der Analyse des Zusammenbruchs der Sowjetunion verweist er auf fehlende Knappheitspreise und andere Bedingungen einer rationalen Ressourcenallokation, kommt also zu einer wirtschaftsliberalen Interpretation der Ereignisse. Das abschließende und neunte Kapitel ist eher eine Zusammenfassung als ein Ausblick in die Zukunft – es sei denn, man betrachtet das Bild mit dem Platz des himmlischen Friedens in Peking am Anfang des Kapitels als einen verdeckten Hinweis auf die chinesische Herausforderung. Weil China nach Darwin seit mehr als dreißig Jahren den kapitalistischen Weg eingeschlagen hat, würde das zwar einen Niedergang des Westens, aber keine neue Weltwirtschaftsordnung versprechen.

Wer nicht über sehr fundierte weltgeschichtliche Kenntnisse verfügt, kann aus dem Buch viel lernen. Wer weiß schon gleichermaßen über das Safawidenreich im Iran, die Eroberungen von Ching- oder Mandschu-China, das Tokugawa-Regime in Japan, die Erschließung Sibiriens, Gandhis gewaltlosen Widerstand in Indien, Atatürks Reformen und die Kongo-Krise nach der Unabhängigkeit Bescheid? Der Sozialwissenschaftler wird zwar theoretisch prägnante Aussagen vermissen, aber nur mit umfassendem historischen Wissen, wie Darwin es vermittelt, läßt sich erreichen, daß die kühnen Konstruktionen der Theoretiker Kontakt zu den Tatsachen behalten.

John Darwin: Der imperiale Traum. Die Globalgeschichte großer Reiche 1400–2000. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2011, gebunden, 544 Seiten, 59,90 Euro

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