© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  39/11 / 23. September 2011

Letzte Instanz der nationalen Souveränität
Sechzig Jahre Bundesverfassungsgericht: „Hüter der Verfassung“ und die Kontrolle der parlamentarischen Demokratie
Björn Schumacher

Zum Gründungsmythos der Bundesrepublik Deutschland gehört neben dem antitotalitären Konsens ein bis heute virulentes Mißtrauen gegen das eigene Staatsvolk. Das Spannungsverhältnis zwischen Demokratie (Mehrheitsentscheidung) und Rechtsstaat (Minderheitenschutz) sollte in einen Vorrang des Rechtsstaats münden. Dem entsprach die Schaffung einer starken Verfassungsgerichtsbarkeit zur Kontrolle der gesetzgebenden Gewalt.

Erhärtet wurde diese Machtposition durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das sich als unumschränkter „Hüter der Verfassung“ versteht. Eine Flut von Entscheidungen betrifft Artikel 1, Absatz 1, Satz 1 des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Dabei wird die Norm entgegen Absatz 3 als echtes, keiner Einschränkung oder Abwägung zugängliches Individualgrundrecht gedeutet. Inspiriert von Kants kategorischem Imperativ, sehen die Verfassungsrichter die Menschenwürde verletzt bei einer „Herabwürdigung des konkreten Menschen zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe“.

Diese Gemengelage aus inhaltlicher Vagheit, Tautologie und fehlender Schrankenflexibilität hat dennoch passable Entscheidungen hervorgebracht. Hilft es aber auch in ethischen Grenzfällen wie der Kollision zwischen einer Unterlassungs- und einer Handlungspflicht? Was ist zu tun, wenn Menschenwürde und Leben von Kapitalverbrechern gegen Menschenwürde und Leben ihrer unschuldigen Opfer stehen? Dem moralischen Dilemma entspricht ein verfassungsrechtliches. Der zweite Satz des ersten Grundgesetzartikels fordert vom Staat, die Würde des Menschen (aktiv) zu schützen.

Die „Ground-Zero-Entscheidung“ von 2006 erzeugte daher Ratlosigkeit. Karlsruhe kassierte Paragraph 14, Absatz 3 eines neuen Luftsicherheitsgesetzes wegen eines Verstoßes gegen die Menschenwürde von Flugzeuginsassen. Der Gesetzgeber hatte damit die Luftwaffe ermächtigen wollen, gekaperte Flugzeuge (mit ohnehin dem Tod geweihten Insassen) abzuschießen, wenn dies die offenbar einzige Chance bietet, einen Terroranschlag etwa auf ein Atomkraftwerk oder ein vollbesetztes Stadion im letzten Moment zu verhindern.

Ungeachtet seiner Wächterrolle gegenüber der parlamentarischen Demokratie hat das Bundesverfassungsgericht die mit dem Demokratieprinzip verknüpften Grundrechte der Meinungs- und Pressefreiheit, Grundgesetz-Artikel 5, maßgebend gestärkt. Im „Lüth-Urteil“ von 1958 erweiterte es die klassische Lehre von den Grundrechten als individuellen Abwehrrechten gegen einen hoheitlichen Staat. Der Schutz der Meinungsfreiheit gehöre zu einer „objektiven Wertordnung“, die ihrerseits Grundrechtsschranken wie Artikel 5 Absatz 2 GG („allgemeine Gesetze“, „Recht der persönlichen Ehre“) begrenze und mittels „Drittwirkung“ auch das Privatrecht forme.

Meilenstein dieser Theorie ist das „Blinkfüer-Urteil“ von 1969. Der Springer-Konzern hatte nach dem Mauerbau zum Boykott der sozialistischen Wochenzeitung Blinkfüer aufgerufen, weil diese unbeirrt „ostzonale Radio- und Fernsehprogramme“ ankündigte. Die Verfassungsrichter ließen Springers Grundrechte auf Meinungs- und Pressefreiheit hinter die gleichen Grundrechte des wirtschaftlich schwächeren Blinkfüer zurücktreten. Der demokratische Prozeß freier Willensbildung erfordere den ungehinderten Austausch aller Meinungen und den erhöhten Schutz bedrohter Minderheitenmeinungen. Dem in Konkurs gegangenen Blinkfüer half das allerdings nicht mehr.

Wertungswidersprüche kennzeichnen mehrere Entscheidungen zum Konflikt zwischen Meinungsfreiheit und Ehrenschutz. Während das Bundesverfassungsgericht nach 1994 Strafurteile gegen Pazifisten aufhob, die das Tucholsky-Zitat „Soldaten sind Mörder“ verwendet hatten, wies es im „Babycaust-Beschluß“ von 2006 die Verfassungsbeschwerden von Abtreibungsgegnern ab. Deren Flugblatthinweis „Damals Holocaust − heute Babycaust … Dr. F., Tötungsspezialist für ungeborene Kinder“ sei eine Beleidigung nach Paragraph 185 Strafgesetzbuch des Arztes. Das Argument, brisante Meinungsäußerungen seien „ein konstitutives Merkmal der freiheitlich-demokratischen Grundordnung“, kam den Pazifisten, nicht aber den christlichen Abtreibungsgegnern zugute.

Im gleichen Jahr 1994 bewertete Karlsruhe die „Auschwitzlüge“ als reine Tatsachenbehauptung, die keine durch Artikel 5, Absatz 1 GG geschützte Meinungsäußerung enthalte. Seriöse Kritik an der Entscheidung und dem mittlerweile strafgesetzlichen Verbot der Holocaustleugnung stärkt jedoch die These, daß das Strafrecht in einer freiheitlichen Demokratie nur das „ethische Minimum“ schützen sollte.

Ebenso umstritten ist der neue Paragraph 130, Absatz 4 des Strafgesetzbuches (Billigung usw. der NS-Gewaltherrschaft). Im „Wunsiedel-Urteil“ von 2009 bezeichnete das Bundesverfassungsgericht den Paragraphen als „Sonderbestimmung“ und nicht als ein Artikel 5 GG zu Recht beschränkendes allgemeines Gesetz. Die Konsequenz, den Paragraphen 130, Absatz 4 Strafgesetzbuch für ungültig zu erklären, zog es aber nicht. Das Grundgesetz sei ein „Gegenentwurf zum Nationalsozialismus“, der die ansonsten garantierte Meinungsfreiheit bei einer „propagandistischen Gutheißung des NS-Regimes“ verdränge. Ein ambivalentes Argument! Erfordert ein „Gegenentwurf“ zur NS-Diktatur nicht die bedingungslose Stärkung der Meinungsfreiheit? Führt eine Verknüpfung der 1958 im „Lüth-Urteil“ beschworenen freiheitlichen Wertordnung mit moralisch motivierten Strafgesetzen nicht zu jener „Tyrannei der Werte“, die Carl Schmitt schon damals befürchtete?

Kritik entfachten auch zwei Entscheidungen zu Artikel 6, Absatz 1 Grundgesetz: „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.“ Mit fünf zu drei Richterstimmen billigte Karlsruhe 2002 das Gesetz über die gleichgeschlechtliche „Lebenspartnerschaft“. Auf deren Gleichsetzung mit der Ehe läuft eine Gerichtsentscheidung von 2009 hinaus. Das Eheprivileg bedarf danach in allen Rechtsbereichen „eines hinreichend gewichtigen Sachgrunds“. Dieser fehle bei der Hinterbliebenenversorgung, da die „Versorgerehe“ in „modernen Gesellschaften“ nicht länger als Maßstab tauge. Auch sei der Aspekt Familiengründung kein Sachgrund, da in „zahlreichen“ Lebenspartnerschaften Kinder lebten und „nicht jede Ehe auf Kinder ausgerichtet“ sei.

Ein Glanzpunkt höchstrichterlicher Rechtsprechung ist dagegen das Urteil zum deutsch-deutschen Grundlagenvertrag. Unbeeindruckt von der „Zwei-Staaten-Theorie“ beschwor Karlsruhe 1973 das Wiedervereinigungsgebot der Grundgesetzpräambel, seine Ausprägung im damaligen Artikel 23 GG (der später das rechtliche Fundament des DDR-Beitritts bildete) und die einheitliche deutsche Staatsangehörigkeit nach Artikel 16 und 116 GG.

Die aktuell brisantesten Fragen zu Nationalstaat und Demokratie ranken sich um die EU-Verträge. Im „Maastricht-Urteil“ von 1993 identifizierte Karlsruhe die Europäische Union als einen über lose Konföderationen hinausgehenden „Staatenverbund“, aber nicht als Bundesstaat mit eigenem Staatsvolk. Die Übertragung von Hoheitsrechten an die EU bedürfe daher legislativer Akte ihrer souveränen Mitgliedstaaten. Widersprüchlich bleibt die Karlsruher Forderung nach einem Ausbau demokratisch-parlamentarischer Strukturen auf EU-Ebene. Sie läuft auf die Vergeudung von Steuermitteln hinaus; denn ohne „europäisches Staatsvolk“ gibt es auch keinen demokratischen EU-Souverän, der sich in einem „Europa-Parlament“ konstituieren könnte.

Zum klaren Plädoyer für den souveränen Nationalstaat mit „ausreichendem Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse“ wurde das „Lissabon-Urteil“ von 2009. Das Bundesverfassungsgericht definierte sich als Kontrollinstanz zur Abwehr demokratiewidriger, „ausbrechender Rechtsakte“ der EU und zur Wahrung des „unantastbaren Kerngehalts“ deutscher Verfassungsidentität.

Das „Rettungsschirm-Urteil“ vom September 2011 wird diesem Anspruch nur teilweise gerecht. Zwar forderte das Bundesverfassungsgericht für Kreditbürgschaften zugunsten anderer EU-Staaten eine Zustimmung des Haushaltsauschusses des Bundestags, ließ zwei gegen Artikel 125 AEU-Vertrag (Beistandsverbot) verstoßende Bundesgesetze aber passieren.

Auch wenn EU-Recht nicht sein unmittelbarer Prüfungsmaßstab ist, macht Karlsruhe sich hier angreifbar. Das zeigen Entstehungsgeschichte sowie Sinn und Zweck der EU-Verträge. Der deutsche Gesetzgeber hat ihnen unter Preisgabe demokratischer Hoheitsrechte nur deshalb zugestimmt, weil sie elementare deutsche Interessen schützen sollen, unter anderem durch das Verbot der Übernahme fremder Schulden. Bundesgesetze, die von Artikel 125 AEUV abweichen, zerstören diese Geschäftsgrundlage deutscher EU-Mitgliedschaft und verletzen mittelbar das Demokratieprinzip des Artikel 20, Absatz 1 und 2 GG. Richterliche Zurückhaltung ist hier fehl am Platze. Einige Passagen des „Rettungsschirm-Urteils“ zeigen, daß die Verfassungsrichter das ähnlich sehen und künftig strenger urteilen könnten.

Gegründet 1951 zur Absicherung des Rechtsstaats vor Eingriffen durch das Parlament, muß das Bundesverfassungsgericht sechzig Jahre später die Demokratie vor den Parlamentariern schützen.

Foto: Roben, Barette und Jabots liegen für die Verfassungsrichter bereit: Das Spannungsverhältnis zwischen Demokratie (Mehrheitsentscheidung) und Rechtsstaat (Minderheitenschutz) sollte in einen Vorrang des Rechtsstaats münden

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