© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  39/11 / 23. September 2011

Europäische Kleinheit schafft Europäische Einheit
Stutzt den Riesen
Michael von Prollius

Aber da der Weg zur Größe kein Ende hat, und da die Einheitsfanatiker kein Ding finden, das sich nicht doch noch vergrößern ließe, können sie nirgends landen außer in der Irrenanstalt der Unendlichkeit“, konstatierte der in Österreich geborene Rechts- und Staatswissenschaftler Leopold Kohr in seinem Opus magnum „Das Ende der Großen – zurück zum menschlichen Maß“ in den 1950er Jahren.

Die derzeit vorangetriebene, zentral geplante Integration Europas entzieht dem friedlichen Zusammenleben in einer offenen Gesellschaft die Grundlage. Eine menschengemäße Alternative muß sich von diesem konstruktivistischen Atavismus ab- und den humanistisch-liberalen Grundlagen des Abendlandes zuwenden. An die Stelle einer rapide zunehmenden „rule of men“ muß wieder die „rule of law“ treten, und der homogenisierende EU-Zentralismus weniger muß durch einen Wiederaufbau Europas vieler von unten nach oben ersetzt werden.

Das, was heute als Kapitalismus bezeichnet wird, hat weder etwas mit dem deutschen Synonym freie Marktwirtschaft zu tun noch mit sozialer Marktwirtschaft. Statt von Kapitalismus sollten wir die herrschenden Zustände als Korporatismus bezeichnen. Allenfalls ließe sich von organisiertem Kapitalismus sprechen, also einem Dritten Weg zwischen Marktwirtschaft und Staatswirtschaft. Die Parole „Dritter Weg“ erfüllt den verbreiteten Wunsch nach einem Kompromiß: Die Effizienz der Märkte soll durch egalitäre und kollektive Staatseingriffe „sozial gerecht“ korrigiert werden.

Allerdings richten sich die Staatseingriffe nicht nur gegen die Ergebnisse, sondern stets gegen das Wesen einer freien Gesellschaft. Daher ist die herrschende Form des „Kapitalismus“ mit den Worten des in Frankreich lebenden Ungarn Anthony de Jasay ein „offener begrifflicher Widerspruch wie heißer Schnee, jungfräuliche Prostituierte, fettes Skelett, rundes Quadrat.“ Wir sollten die praktizierte Europa-Propaganda nicht als harmlos abtun, sondern die dahinterstehende Ideologie als potentiellen Weg in die Knechtschaft begreifen.

Was Europa braucht, ist die strikte Orientierung an den Prinzipien einer offenen, pluralistischen Gesellschaft, im Bereich der Wirtschaft also Marktwirtschaft statt noch mehr Staatskapitalismus: Ein starker, unabhängiger Minimalstaat würde für einen langfristig verläßlichen Rechtsrahmen sorgen, sich aber aus Wirtschaft und Gesellschaft heraushalten. Freiheit für die Menschen und für die Märkte sowie Sicherung der Ordnung abstrakter, ausnahmslos für alle Menschen geltender Regeln durch den Staat, könnte eine Devise lauten. Schon 1932 hatte Walter Eucken den „Wirtschaftsstaat“ mit seinen punktuellen Eingriffen kritisiert, die Interessengruppen aktivieren, um den Staat zu okkupieren.

Soziale Marktwirtschaft bedeutete ursprünglich eine Marktwirtschaft, die per se sozial ist. So sah es zumindest Ludwig Erhard. Freie Initiative, Wettbewerb und sozialer Fortschritt durch die Leistungen der Marktwirtschaft sollten künftig wieder die Entfaltungsmöglichkeit der Menschen sichern – nicht die Willkürideologie der „sozialen Gerechtigkeit“.

Soziale Marktwirtschaft besteht nicht aus Regulierung, Bürokratisierung, Umverteilung und wirtschaftlicher Tätigkeit des Staates. Wer Menschen auch in guter Absicht gängelt, zu Rädchen im Bürokratiegetriebe macht und ihnen die Ergebnisse ihres Handelns vorschreibt – von Glühbirnenverboten bis zur Kinderaufbewahrung –, der pervertiert all das, was das Abendland ausmacht.

Die Zukunft Europas liegt nicht in Brüssel, sondern in den Herzen und Köpfen der Menschen in ihren Regionen, Gemeinden, Städten und Dörfern. Der kulturkritische Ökonom Wilhelm Röpke, einer der geistigen Väter der Sozialen Marktwirtschaft, urteilte: „Wenn der Gemeinsame Markt zu einem europäischen Saint-Simonismus, zu einer europäischen Herrschaft des Apparats, zu einem europäischen Dirigismus großen Stils werden sollte, dann ist ein solcher europäischer Dirigismus nicht besser als ein nationaler, ja weit schlimmer, weil er ungehemmter, unentrinnbarer und umfassender sein würde.“

Menschen auf Märkten entlarven den Staatskapitalismus der europäischen Staatsführungen und den Zentralismus der EU-Bürokraten im Zuge der Schuldenkrise als gefährliche Klientelwirtschaft. Der paternalistische Sozialstaat, der chronisch über seine Möglichkeiten lebt, steckt in einer Sackgasse fest. Jeder vernunftbegabte Mensch weiß: Schulden machen, als gäbe es kein Morgen, hat keine Zukunft mehr. Die deutschen Regierungen haben ihre Steuerzahler längst zum „Zahlmeister Europas“ gemacht.

Deutschland hat seit der Wiedervereinigung bis 2008 einen Nettobeitrag in Höhe von 146 Milliarden Euro für die EU geleistet und ist damit für 45,1 Prozent aller Wohlfahrtstransfers in die Volkswirtschaften der Nettoempfänger aufgekommen – vor der Finanz- und Staatsschuldenkrise! Wer die selbst verschuldeten Probleme auf die nächsthöhere Ebene verlagern will, treibt ein gefährliches Spiel und kauft lediglich Zeit mit dem Geld anderer Leute, anstatt die Probleme bei der Wurzel zu packen.

Europa braucht keine Vertragsbrüche durch Regierungen, keine monetäre Planwirtschaft der Europäischen Zentralbank, die selbst zur Bad Bank geworden ist, keine Gleichmacherei einer zentralistischen Wirtschaftsregierung. Unübersehbar ist die Allianz organisierter Großgruppen, von „big business“ und „big government“.

Wer sich organisiert, wird subventioniert und gesetzlich begünstigt. Vetternwirtschaft par excellence. Autobauer, Banker, Ökologisten. Was bleibt? Umkehren und zurück zu den Wurzeln! Statt dessen werden wir teils tosender, teils auf leisen Sohlen schleichender Panikmache ausgesetzt. Der Euro soll das Schicksal Europas sein. Das könnte, ganz anders als erwartet, tatsächlich noch der Fall sein. Der Staat, dessen ureigene Aufgabe der Schutz der Menschen vor Bedrohungen und die Sicherung ihrer Freiheit war, steckt europaweit in einer Krise. Der eingeschlagene Weg führt zur Herrschaft einer privilegierten Funktionärsgruppe über die Masse der Bevölkerung und damit in die Knechtschaft. Wenn man den Rand des Abgrunds erreicht hat, ist das einzige, was vernünftig ist, Rückzug.

Die Flucht in den Zentralismus war bisher häufig der Versuch, politischen Mißerfolg zu kaschieren, statt beim Scheitern öffentliche Angelegenheiten an die darunter liegende Ebene zurückzuverweisen. Eine Aufspaltung der EU ist weder abwegig noch falsch. Vielleicht paßt der Bürokratenbegriff „Rückbau“ besser. Zu große Einheiten müssen wieder in funktionsfähige kleinere Einheiten aufgegliedert werden, ähnlich wie bei Daimler-Chrysler oder in der Natur bei zu großen Herden, die sich aufteilen. Der positive Kern der EU kann erhalten bleiben, also vorwiegend übergreifende Verträge in Form allgemeiner Rechtsregeln auf Freiwilligkeitsbasis, zum Beispiel zum Freihandel und zur Freizügigkeit.

Wie könnte es zu einem Aufsplittern der EU kommen? Zunächst gibt es Krisenfaktoren. Die aktuelle Wirtschaftskrise hat das Zeug, zusammen mit der politischen Krise eine gravierende soziale Krise herbeizuführen. Das herrschende Wirtschaftssystem wird unter Inflation, den Kosten riesiger Rettungsschirme sowie Vermögensabgaben, sinkenden Sozialstandards und weiter wachsender Bürokratisierung leiden. Daran kann die brüchige „Festung Europa“ implodieren. Die bürgerferne, undemokratische EU-Führung in Frage zu stellen, wird bei mangelnder Fähigkeit, mit Geld vieles zu übertünchen, en vogue werden. Die grassierende Enttäuschung über die politische Kaste beschert im negativen Fall Populisten, im positiven Fall Querdenkern politischen Erfolg. Konflikte zwischen Staaten und innerhalb der Staaten wegen der fiskalischen Lastenverteilung und Perspektivlosigkeit verschiedener Gruppen nehmen zu. Schulden und damit zukünftige Armut statt Wohlstand für alle ist das Rezept, um Proteste und offene Konflikte zu schüren. Primat der Politik und praktische Unverantwortlichkeit der Regierung gehen dabei Hand in Hand.

Die einen sind es leid, noch mehr Lasten aufgebürdet zu bekommen und gegängelt zu werden, die anderen bekommen nie genug und fühlen sich sozial ungerecht behandelt. Wird der „Wutbürger“ sich empören und protestieren? Bei ausreichend Perspektivlosigkeit folgt dem Arabischen ein Europäischer Frühling. Angesichts der Maßlosigkeit vieler staatlicher Eingriffe kann der einzelne Mensch seine Freiheit und Würde nur im Rahmen des für ihn überschaubaren Gemeinwesens behalten. Sonst wird er zu einem unbedeutenden Teilchen der Verfügungs- und Verschiebungsmasse auf dem Reißbrett eines Molochs. Die Unterscheidung hat der österreichisch-schweizerische Bankier und Nationalökonom Felix Somary auf den Punkt gebracht: „Den Rechtsstaat charakterisiert die Begrenzung, das Maß; den Machtstaat die Unbegrenztheit, das Totale.“

Nicht Zusammenschluß, sondern Teilung ist die Lösung. Ziel sollte eine Welt überschaubarer, menschengemäßer Einheiten sein, wie sie vor dem 20. Jahrhundert existierte. Der treffendere Begriff für die Neuordnung heißt „Non-Zentralismus“ und stammt von dem schweizerischen Humanisten Robert Nef. Es geht dabei um mehr als Subsidiarität, nämlich Antizentralismus, nicht zuletzt durch Sezession. Non-Zentralismus ist ein friedliches und unblutiges Konkursverfahren des Zentralstaates.

Probleme werden schrumpfen mit sinkender Organisationsgröße. In kleinen sozialen Einheiten wie Familie, Dorf oder Kleinstadt, auch in einem Bezirk, kann man glücklich sein. Dafür bedarf es nicht allzu großer Voraussetzungen. Selbst Raub, Mord, Vergewaltigung und dergleichen gibt es in überschaubaren sozialen Lebenszusammenhängen selten. Ist Kleinheit gar ein Quell von Glückseligkeit?

Leopold Kohr vertrat die Auffassung, daß sich nur kleine Staaten zu gesunden, funktionsfähigen, größeren Organismen vereinigen können: „Nur kleine Staaten sind föderalisierbar.“ Erfolgreiche Beispiele waren – zumindest für lange Zeit – die USA und die Schweiz, da sie über schwache Zentralregierungen und eine große Zahl von Gliedstaaten verfügten. Auch der Erfolg der Kleinstaaten spricht für sich, wie die Kultur in Weimar, Florenz und Athen zeigt. Wirtschaftlich zählen Hongkong, Monaco, die Schweiz, Singapur und Liechtenstein dazu.

Non-Zentralismus, Regionalismus, Kleinstaaterei und das Besinnen auf historische gewachsene Länder führen Europa zu alten Tugenden und Stärken zurück, zur kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Vielfalt. Wir brauchen mehr denn je lernfähige Gemeinwesen für die Zukunft. Verantwortung sollte vor Ort wahrgenommen und nicht nach oben wegdelegiert werden.

 

Dr. Michael von Prollius, Jahrgang 1969, Wirtschaftshistoriker, ist Publizist und Gründer der Internetplattform „Forum Ordnungspolitik“. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Freiheit und Vielfalt („Die gute Ordnung“, JF 4/11).

Michael von Prollius: Die Euro-Misere. Essays zur Staatsschuldenkrise, gebunden, 240 Seiten, TvR Medienverlag, Jena 2011. Der Essayband entwickelt Alternativen zum bankrotten staatlichen Geldsystem und der EU-Einheitswährung.

Der Interventionsstaat manipuliert den Marktmechanismus, meinte Philipp Bagus vor zwei Wochen an dieser Stelle. Michael von Prollius hält auch den Zentralismus supranationaler Organisationen für schädlich.

Foto: Die EU als Gulliver unter Liliputanern: Können sie den Riesen wieder in Ketten legen?

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen