© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  39/11 / 23. September 2011

Auf den Spuren Fontanes
Eine Wanderung durch die Mark Brandenburg hundertfünfzig Jahre nach dem großen preußischen Dichter
Michael Manns

Er war Preußens größter Wanderer. Vor rund 150 Jahren erkundete Theodor Fontane die Mark Brandenburg. Seine Eindrücke legte er in fünf Bänden nieder. Sie sind eine Liebeserklärung an das alte Preußentum. Der Autor ist einen kleinen Teil „nachgewandert“ – quasi auf den Spuren des Dichters.

* * *

Im Sommer 1869 hatte Fontane eines Abends aus Potsdam kommend Gütergotz (es wurde 1937 in Güterfelde umbenannt) erreicht. An der Chaussee, die nach Großbeeren führte, machte er halt vor dem Gasthaus „Unverworfen“. Hier übernachtete er. Fontane ging noch einmal auf die Dorfgasse, „um Gütergotz im Dämmer zu sehen“.

Nach kurzem Gange standen wir inmitten eines Platzes, der das Herz von Gütergotz und zugleich seine Zierde bildete. Häuser- und Baumreihen fassen die Längsseiten ein, an den Schmalseiten aber, einander gegenüber erheben sich links die Kirche und rechts das Schloß. Das Ganze eine gefällige und eine stattliche Anlage zugleich.“

Schloß und Kirche existieren noch, nur der Platz ist arg ramponiert. Kreisel und Durchgangsstraße haben ihm zugesetzt. Fontane trifft sich an diesem Abend noch mit dem Pfarrer, der ihm die Geschichte des Wendendorfes erzählt. Der nächste Morgen:

Unsere Reisetoilette war schnell beendigt, noch schneller das Frühstück: Ein Wagen fuhr vor, und alsbald mahlten die Räder im Sande. Wir fuhren zwischen Dorf und See; eine brütende Schwüle herrschte, trotzdem wir kaum die zehnte Stunde hatten. Am Ufer lagerten Hirt und Herde. Tiefe Sonntagsstille. Selbst der Kuckuck drüben im Walde schwieg. Inmitten des Sees, halb im Schatten des Röhrichts, stand ein Dörfler und angelte.

Den See gibt es noch, er strahlt dieselbe Atmosphäre aus, auch Angler sind dort. Nur die Ruhe ist dahin. Schwere Maschinen hört der Wanderer arbeiten. Es wird planiert, gebaggert, untertunnelt, aufgerissen, überbaut. Mit Macht wird an einer vierspurigen Schnellstraße zwischen Güterfelde und Stahnsdorf gearbeitet: eine Verbindung von der Avus zum neuen Flughafen Schönefeld, gegen den die Wutbürger der Region Sturm laufen. So sehe ich einen Hausbesitzer ein Protestschild an seinen Zaun hängen: „Nein zum Fluglärm!“

Ich gehe am See entlang über trockene, ewig dürstende Böden. Des „lieben Herrgotts Streusandbüchse“ wurde zu Recht die Mark Brandenburg genannt. Die Kiefern, die Fontane erwähnt, sind Mischwald gewichen. Er erobert die Truppenübungsplätze zurück, die sich hier erstrecken. Ich finde Schießbahnen, deren Steueranlagen und große, dunkle Hallen, die wie Bunker wirken.

Ich komme mit einem Waldarbeiter ins Gespräch. Er zeigt mir die Stelle, wo der letzte russische Panzer stand. Vor sechs Jahren sei er dann abtransportiert worden. Und die „Bunker“? „Schießanlagen aus der Zeit der Olympiade 1936“, so glaubt er.

Weiter geht es. Wieder zerschneidet eine vierspurige Schnellstraße die Natur. Dann der zweitgrößte Friedhof Deutschlands: Der Südwestkirchhof, 1909 angelegt. Es kommt das Straßendreieck Stahnsdorf-Kleinmachnow, eine traurige Visitenkarte. Anwohner schimpfen über die häßlichste Straßenkreuzung Brandenburgs.

Kleinmachnow ist ein reizend gelegenes Dorf, das sich an einem vom Telte-Fließ gebildeten See hinzieht. Die Häuser sind ärmlich … Das Dorf ist alter Besitz der von Hakes … (wir) schreiten, immer den laubholzumstandenen stillen See zu unserer Rechten , die blühende Kastanienallee hinauf. An Bemerkenswertem finden wir das Herrenhaus, das alte Schloß, die Wassermühle und die Kirche.

Die Mühle (heute ein Restaurant), Kirche sowie Reste der Burg stehen noch. Oberhalb, auf dem Seeberg, im Wald versteckt, baute die Reichspost vor dem Zweiten Weltkrieg ihr geheimes Forschungszentrum. Sechs große Institutsgebäude. Neue Waffentechnologien wurden hier entwickelt: Man beschäftigte sich mit Hochfrequenztechnik, Fernsehaufnahmen und Funkmeßprogrammen für Luftaufklärung und Nachtjäger, fernsehgestützte Panzer- und Raketensteuerung, Infrarot-Nachtsichtgeräten, Abhörtechnik und Entschlüsselung von Geheimcodes. Es gab auch ein Amt für physikalische Sonderfragen (Kernphysik). Hightech für Hitler. Nach 1945 dann eine Kaderschmiede der DDR. Von 1947 bis 1989 residierten hier Parteischulen der SED. Wolfgang Leonhard war hier Dozent, bevor er in den Westen floh.

Weiter Richtung Jagdschloß Dreilinden. Ich nähere mich dem Grenzübergang Dreilinden und Todesstreifen. Makaber: Ich höre Schüsse in der Ferne. Später wird sich herausstellen, daß es ein Schießplatz der Polizei in der Nähe des Jagdschlößchens ist. Vorher kreuze ich noch zwei breite Schneisen. Den Karten entnehme ich, es handelt sich um eine stillgelegte S-Bahn-Trasse und einen Autobahnabschnitt. Eine Autobahn? Ja, die ursprüngliche Straße, aber tot. Der Beton ist nahezu abgetragen. Was war passiert? Da die Autobahn 300 Meter über West-Berliner Gebiet verlief, ließen die DDR-Machthaber Ende der sechziger Jahre westlich davon eine neue Trasse bauen. 50 Millionen Mark kostete die krankhafte Aktion.

Direkt in der Nähe des Schießplatzes im Wald das Jagdschloß. Fontane beschreibt ausführlich seine Geschichte sowie die des Prinzen Friedrich Karl, Neffe des späteren Kaisers Wilhelm I. Zehn Kapitel sind es in dem Band „Fünf Schlösser“. Das Jagdschloß Dreilinden war Lieblingsaufenthalt des Prinzen. Fontane war vom Bahnhof Wannsee gekommen. Sein Weg ist auch heute noch nachvollziehbar:

In raschem Trabe ging es, unter einem Brückenüberbau weg, in eine breite chausseeartige Fahrstraße hinein, die, nach links hin, eine mit hohen Kiefern besetzte Waldlisiere streifte. Hart zur Rechten aber lief der Bahndamm, auf dem eben die roten und grünen Signallichter angezündet wurden. Am Waldsaum hin wob noch Dämmerung, in demselben Augenblicke jedoch, wo wir, von der breiten Fahrstraße her, in einen schmalen und recht eigentlichen Waldweg einbogen, umgab es uns wie Nacht.

Und heute? Drei Linden stehen noch heute da, ferner Informationstafeln und das Forsthaus. Vorbei die Zeiten, in denen hier zu Tafelrunden geladen wurde. 1954 wurde das Schlößchen abgerissen.

Ich gehe den Weg zurück Richtung Eisenbahnbrücke. Unter ihr verläuft heute eine sechsspurige Straße. Laut ist es hier und düster und verdreckt. Sie wurde 1933 gebaut.

Vom Jagdschloß zu Kleists Grab, meiner letzten Station, sollen es 1.000 Schritte sein, was in etwa hinkommt. Das Grab sei etwas versteckt, warnt Fontane. So ist es. Man kann daran leicht vorbeilaufen. Doch er nimmt uns an die Hand:

Wir hatten einen Punkt erreicht, wo der über die Wiese führende Weg ein Ende zu haben schien, bis wir zuletzt, bei scharfem Hinsehen, eines Fußpfades gewahr wurden, der sich, zwischen allerlei Gestrüpp hin, in einer schmalen Schlängellinie fortsetzte ... keine hundert Schritte, und wir hatten’s und standen an der Grabstelle.

Ich stehe vor einem Abhang, unten das Ufer, rechts von mir das Grab des Dichters und seiner Gefährtin Henriette. Die Szenerie vom Nachmittag des 21. November 1811 drängt sich mir auf: Am Hang standen Tisch und Stühle. Das Paar trank Kaffee, Wein und Rum. Hand in Hand sprangen sie den Hügel hinab zum See, schäkernd und sich jagend. Zeugen gaben später zu Polizei-Protokoll: Sie hätten selten so zwei Leute gesehen, die so freundlich zusammen gewesen wären. „Sie nannten sich beständig Kindchen, Liebes. Sie waren außerordentlich vergnügt.“

Sie hatten drei Pistolen dabei.

Fontane, der mit Besuchern vor dem Grab stand, schreibt: „Alles im Kreise wurde still, und diese Stille wirkte wie Huldigung und Gebet.“ Er ging zurück, schaute auf Villentürme, Kioske und Kuppeln:

Alles was ich sah, war Leben, Reichtum, Glück. Und daneben gedacht ich des Dichtergrabes, das einsam ist, trotz der Neugier, die jetzt tagtäglich nach ihm pilgert.

* * *

Geschichte und Zivilisation haben die Natur stigmatisiert. Die Landschaft ist gespickt von steinernen Zeugen der Vergangenheit. Wäre Fontane mein Begleiter gewesen – wie hätte er das alles empfunden und bewertet? Seine Gelassenheit und sein ironischer Humor sind bekannt. Wandel, gar Untergang hatte er selbst erlebt. Das alte Preußen Friedrichs des Großen, die Revolutionswirren 1848, Bismarcks Reichsgründung, das Dreikaiserjahr 1888. Sein Stechlin gibt uns einen Hinweis. Dort heißt es: „Alles Alte, soweit es Anspruch darauf hat, sollen wir lieben, aber für das Neue sollen wir recht eigentlich leben.“

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