© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/11 / 16. September 2011

Aufgeheizte Stimmung
Tschechien: Zuzug von Roma verunsichert die Bevölkerung in Nordböhmen / Eskalation der Gewalt
Paul Leonhard

Bei Anti-Roma-Protesten ist es am Sonnabend im Schluckenauer Zipfel erneut zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei gekommen. Insgesamt hatte es Demonstrationen in Haida, Warnsdorf und Rumburg gegeben. Rund 600 Polizisten waren im Einsatz. Drei Polizisten und drei Demonstranten wurden in Warnsdorf verletzt, als der Protestzug zu einer Roma-Siedlung marschieren wollte.

In dem malerisch gelegenen nordböhmischen Landstrich bahnt sich eine Eskalation zwischen Zigeunern und sogenannten „weißen Tschechen“ an. Am vergangenen Wochenende hatte die rechtsnationale Arbeiterpartei der sozialen Gerechtigkeit (DSSS) gleich mehrere Demonstrationen angemeldet. Schon eine Woche zuvor gab es bereits Proteste mit bis zu 1.500 Teilnehmern, zu denen die Sozialdemokraten, die Bewegung Freie Jugend und die Initiative „Bürgerwiderstand“ aufgerufen hatten. Ein spontaner Marsch auf ein von Roma bewohntes Quartier konnte erst in letzter Minute von einem Polizei-Spezialkommando gestoppt werden.

Ursache der aufgeheizten Stimmung ist der Zuzug zahlreicher junger Roma zur seit Jahrzehnten ansässigen Roma-Bevölkerung und damit ein gravierender Kriminalitätsanstieg. Eigentlich sind die sozialen Spannungen eine späte Quittung für die Vertreibung der einst hier ansässigen Deutsch-Böhmen nach 1945. Nur wenige Tschechen waren damals bereit, sich in dem nach Deutschland hineinragenden Schluckenauer Zipfel niederzulassen. Die Regierung in Prag siedelte in der abgelegenen Randregion vor allem Roma an, die etwa ein Fünftel der Bevölkerung ausmachten, und überließ diese ihrem Schicksal. Die Region galt schnell als Hochburg der Prostitution und Kriminalität.

Angesichts dieser Probleme verlangten Kommunalpolitiker bereits im Februar von Prag mehr gesetzliche Möglichkeiten, um gegen den Mißbrauch von Sozialleistungen vorgehen zu können. Dabei verwiesen sie darauf, daß viele Roma ihre Sozialhilfe in Spielkasinos und für Alkohol umsetzen. Pavel Louda, Bürgermeister der ostböhmischen Stadt Neubidschow verkündete gar, daß man einen privaten Sicherheitsdienst einsetzen werde, um die Bevölkerung vor der Roma-Kriminalität zu schützen. Hintergrund waren mehrere Überfälle sowie die Vergewaltigung einer jungen Frau. Parallel dazu gab es Anfang August in Haida einen Überfall von fünf mit Macheten und Schlagstöcken bewaffneten Roma auf Spielcasinobesucher. Ende des Monats griffen etwa 20 Zigeuner sechs tschechische Jugendliche an und schlugen vier von diesen krankenhausreif. Die Polizei sprach von „rassistischen Motiven“. Die Stimmung kippte vollends.

Doch wer trägt die Schuld? Fakt ist, daß allein im 5.700-Einwohner-Städtchen Schluckenau innerhalb eines halben Jahres 200 Zigeuner hinzugezogen sind. Daß es sich um eine organisierte Umsiedlung von Roma handelt, wie die örtlichen Bürgermeister befürchten, wird in Prag jedoch bestritten. Dennoch mehren sich die Gerüchte, die Immobilienspekulationen verweisen. Entsprechend kontstatiert die Hospodarske noviny: „Die Roma sind in der Tschechischen Republik ein lukratives Geschäft geworden“ – auf Kosten des Schluckenauer Zipfels.

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