© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  37/11 / 09. September 2011

Wie der Staat den Marktmechanismus manipuliert
Verfälschte Kalküle
Philipp Bagus

Menschen handeln. Sie entdecken ständig neue Ziele und Mittel, um diese Ziele zu erreichen. Da die Anzahl möglicher Ziele unbegrenzt, die Mittel jedoch knapp sind, müssen einige Ziele zurückgestellt werden. Nur das wichtigste Ziel wird verfolgt. Die Wertschätzung der Ziele, welche der Handelnde zunächst zurückstellt, wird als Kosten der Handlung bezeichnet. Ist der Wert des erreichten Ziels höher als die Kosten, also der Wert der aufgegebenen Ziele, erzielt das Individuum einen Gewinn. Übersteigt hingegen der Wert der alternativen Handlungen das erzielte Ergebnis, hat das Individuum einen Verlust eingefahren.

Von jeder Handlung wird ex ante ein Gewinn erwartet, sonst würde der Handelnde sich für die Alternativen entscheiden. Nach Vollzug der Handlung kann sich das Individuum jedoch gewahr werden, daß ein Verlust erzielt wurde. Es hätte die knappen Mittel besser für Alternativhandlungen einsetzen sollen.

Der erwartete Gewinn ist der Anreiz, der uns antreibt, orientiert und lenkt. Den Entscheidungsvorgang für eine bestimmte Handlung nennt man heute Kosten-Nutzen-Kalkül, der österreichische Ökonom Ludwig von Mises sprach von Wirtschaftsrechnung. Sie ermöglicht verantwortliches Handeln. Der Wert des Handlungsergebnisses wird gegen die Kosten abgewogen.  In kapitalistischen Gesellschaften wird bei vielen Handlungen eine Wirtschaftsrechnung in Geldeinheiten möglich. Wer monetären Gewinn erzielt, hat die knappen Ressourcen der Gesellschaft effizient zur Befriedigung von Konsumentenbedürfnissen eingesetzt. Das Wunderbare dabei: Gewinn bringt gesellschaftliche Koordination.

Ein Beispiel: Person A braucht die Ressource R, um sein Ziel Z erreichen zu können. Individuum B ist im Besitz von großen Mengen Rs, hat jedoch keine richtige Verwendung für diese. R ist ihm sogar eine Last. Individuum C erkennt das Bedürfnis von Person A und sieht, wie B die Ressource R verschwendet. C kommt die Idee, die Ressource R von B billig zu kaufen und teuer an A zu verkaufen. C schätzt, daß er für zehn Geldeinheiten die Ressource R von B kaufen und für 20 Geldeinheiten an A verkaufen kann. Diese Schätzung ist Cs Wirtschaftsrechnung.

Handelt C gemäß seiner Berechnungen und behält recht, erzielt er einen Gewinn von zehn Geldeinheiten. Es ist dieser Gewinn, der ihn zur Handlung motiviert hat. C koordiniert die Gesellschaft. Die Individuen disziplinieren ihre Handlungen in Funktion der Bedürfnisse der anderen. B verschwendet nicht mehr seine Ressource R, sondern bewahrt sie, da ihm zehn Geldeinheiten dafür angeboten werden. A kann nun endlich sein heiß ersehntes Ziel Z erreichen. Durch die Gewinnanreize und durch den Einfallsreichtum und die Schaffenskraft des Unternehmers C koordiniert sich die Gesellschaft.

Ein zentraler Planer, der mit Gewalt das Problem lösen will, ist nicht nötig. Staatliche Gewalt ist zur Koordination der Gesellschaft nicht nur unnötig, sondern auch abträglich. Denn überall, wo Gewalt angewendet und Privateigentum verletzt wird, verfälscht man die Wirtschaftsrechnung. Es kommt zu Fehlabstimmungen und sozialen Problemen. Unverantwortliches Handeln macht sich breit und vergrößert die bestehenden sozialen Probleme. Ohne Gewinne gibt es keinen Anreiz zur Koordination und Anpassung.

Heutige Staaten verfälschen die so wichtige Wirtschaftsrechnung, da sie das Privateigentum systematisch verletzen. In zweifacher Hinsicht wird die Wirtschaftsrechnung – die subjektive Gewinnschätzung einer Handlung unter Berücksichtigung der Kosten – gestört. Erstens werden Gewinne sozialisiert. Der Staat zieht mittels Steuern und sonstigen Abgaben einen Teil der monetären Gewinne ein. Person C macht nicht mehr zehn Geldeinheiten Gewinn, sondern vielleicht nur noch fünf. Der Anreiz der Koordination wird abgemildert. Fehlabstimmungen bleiben bestehen, weil sich Leistung weniger lohnt. Dies macht sich bei geringeren unternehmerischen Gewinnen, Investitionserträgen oder Gehältern bemerkbar, was Anreize zur Produktion, zum Sparen und  Arbeiten mindert.

Allgemein ändert sich das Verhalten der Akteure. Warum in der Schule lernen und strebsam sein, wenn später Gewinne sozialisiert werden und an die weniger Strebsamen verteilt werden? Warum nicht prassen und sorglos sein, wenn die Erträge aus Ersparnissen besteuert werden? Da die Gewinne geschmälert werden, verschiebt sich das Ergebnis der Wirtschaftsrechnung. Es kommt zu unverantwortlichem Handeln. Leistungsbereitschaft, Sparsamkeit, und andere Tugenden gehen zurück.

Zweitens werden aber auch die Kosten sozialisiert. Die Kosten von Handlungen werden in unserem paternalistischen Staat vielmals anderen übertragen, indem Eigentumsverletzungen zugelassen werden. Negative Folgen werden auf die Allgemeinheit abgeschoben. Dies führt zu risikoreichem Verhalten. Die Wirtschaftsrechnung wird verzerrt, da möglichen Gewinnen unzureichende Kosten gegenüberstehen. Der Handelnde erhält im Erfolgsfall die gesamten Gewinne seiner Handlung, kann jedoch die Kosten oder Verluste teilweise auf andere abwälzen. Er haftet nicht.

Heutige Beispiele sind zahlreich. Die japanische Atomindustrie muß nicht für Kosten aufkommen, die bei Havarien ihrer Kraftwerke entstehen, sofern die Kosten aus Naturkatastrophen resultieren. Die Wirtschaftsrechnung wird verfälscht, weil die Kosten auf die japanischen Steuerzahler und die Geschädigten abgewälzt werden können. So schützte die Atomindustrie ihre Kraftwerke nicht ausreichend gegen Naturkatastrophen.

Politiker tragen die Kosten ihrer Handlungen nicht. Sie werden auf die Steuerzahler abgewälzt. Die Kosten der politischen Entscheidungen werden teilweise erst in vielen Jahren anfallen, wenn Politiker schon nicht mehr an der Macht sind. Daher denken Politiker größtenteils nur kurzfristig. Die nächste Wahl ist näher als der langfristige Vorteil des Volkes. Helmut Kohl, der die DM als „Preis der Wiedervereinigung“ auf dem Altar der Europäischen Gemeinschaft opferte, muß heute nicht die Kosten der Währungsunion tragen. Auch Angela Merkel haftet nicht für die Schulden, die aufgrund ihrer Versprechungen für den Rettungsschirm anfallen.

Der Finanzsektor ist ein weiteres typisches Beispiel einer verzerrten Wirtschaftsrechnung durch Sozialisierung der Verluste. Banken schaffen Geld aus dem Nichts und operieren mit einer Teildeckung auf ihre Sichteinlagen. Sie sind traditionell die Finanziers der Staaten. Historisch bekamen sie oftmals das Privileg, Geld aus dem Nichts herzustellen, um dieses Geld dann an die Staaten zu verleihen. Die Banken werden so zu Komplizen der Staaten und ihre Finanziers.

Ohne die Geldschöpfung des Bankensystems – dirigiert von den Zentralbanken – könnten Staaten niemals derartige Schuldenberge anhäufen, wie wir sie heute vorfinden. Banken wissen, daß sie von den Staaten gebraucht und im Notfall – wenn die Systemstabilität bedroht ist – auch gerettet werden. Die implizite Rettungsgarantie für die großen Banken verfälscht ihre Wirtschaftsrechnung. Die Gewinne aus riskanten Investitionen oder Krediten an unverantwortliche Regierungen können die Banken einstreichen. Die Kosten in Form von Fehlinvestitionen und Verlusten müssen die Banken jedoch zum Teil nicht tragen. Diese werden sozialisiert. Risikoreiches und unverantwortliches Handeln ist die Folge.

Anhand der Europäischen Währungsunion wird der Zusammenhang zwischen verfälschter Wirtschaftsrechnung und Eingriffen in die Eigentumsrechte besonders deutlich. Der Euro ist ein öffentliches Zwangsgeld, das den Deutschen und anderen Europäern aufgezwungen wird.

Die Regierungen der Eurozone können durch die Schaffung neuen Geldes ihre Ausgaben finanzieren. Sie drucken Staatsanleihen, die das Bankensystem kauft und als Sicherheit bei der EZB hinterlegt. Für die Sicherheiten erhalten die Banken neues Zentralbankgeld und können neues Geld schaffen. Durch die Geldschöpfung zur Staatsfinanzierung steigen die Preise. Damit können die Kosten teilweise auf die Geldnutzer abgewälzt werden, da die Kaufkraft zurückgeht.

Die Rechnung für die Regierungen wird verfälscht. Die Gewinne aus den Staatsausgaben, mit denen sich die Regierungen Wählerstimmen erhoffen, fallen an die Regierungen. Die Kosten werden jedoch in zweierlei Hinsicht auf andere übertragen. Zum einen auf die Steuerzahler, die wachsende Staatsschulden in der Zukunft begleichen müssen. Zum anderen auf die Geldnutzer, deren Kaufkraft zurückgeht und die teilweise in anderen Staaten der Eurozone beheimatet sind. Unverantwortliches Handeln manifestiert sich in Form überzogener Staatsdefizite.

Aber nicht nur im Geldwesen wird die Wirtschaftsrechnung durch die Sozialisierung von Kosten durch den paternalistischen Staat manipuliert. Wer seine Gesundheit vernachlässigt, muß die Kosten nicht voll tragen, weil das staatliche Gesundheitssystem einspringt. Wer nicht arbeiten will, fällt weich in die sozialen Sicherheitsnetze. Wer unfreundlich ist oder seine Familie nicht ehrt, geht das Risiko ein, daß er Freunde und Familie verliert. Aber die Kosten der Unfreundlichkeit, des Verlustes von Freunden und Familie werden teilweise sozialisiert.

Während früher Verwandte und Freunde in Notsituationen und im Alter behilflich waren, sind es heute die staatlichen Wohlfahrtssysteme. Ein Rüpel muß sich über seine staatliche Rente oder Notfallhilfe keine Sorgen machen. Selbst die Kosten von Scheidungen werden teilweise der Allgemeinheit aufgehalst – durch öffentlich bezahlte Krippenplätze und sonstige Zuwendungen. Familienauflösungen sind für die Eheleute also „billiger“. Wo traditionelle gesellschaftliche Bande schwinden, atomisiert sich die Gesellschaft. Hingegen nimmt die Bindung an den Staat zu. Benimmregeln und Umgangsformen verkommen.

Die großen Probleme unserer Zeit gehen auf den modernen Wohlfahrtsstaat zurück. Staatlich erzeugte Fehlanreize hemmen die gesellschaftliche Koordination. Die Sozialisierung der Gewinne führt zu einem Leistungsabfall und zu allgemeiner Demotivation. Hingegen animiert die Sozialisierung der Kosten zu risikoreichem Verhalten, das oft katastrophal endet. Der fürsorgende Staat untergräbt den gesellschaftlichen Wohlstand, indem er die Einheit von Handlung und Haftung schleichend aufhebt.

 

Prof. Dr. Philipp Bagus, Jahrgang 1980, unterrichtet Volkswirtschaftslehre an der Universidad Rey Juan Carlos in Madrid. Gemeinsam mit David    Howden analysierte er die Islandpleite („Deep Freeze: Iceland‘s Economic Collapse“, 2011).

Mangelnde Marktethik sei eine Ursache für die Krise des Kapitalismus, meinte Wolfgang Ockenfels vor zwei Wochen an dieser Stelle.  Philipp Bagus hält dagegen: Der Wohlfahrtsstaat manipuliert den Marktmechanismus.

Philipp Bagus: Die Tragödie des Euro. Ein System zerstört sich selbst, gebunden, FinanzBuch Verlag, München 2011, 205 Seiten, 17,99 Euro. Für den Autor steht fest: Der Euro führt zur Ausplünderung der reichen Euroländer und wird scheitern (JF 17/11).

Foto: Marktwirtschaft als Kopfsache: Die Interventionen des Wohlfahrtsstaates sind Sand im Getriebe des Unternehmergeistes

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