© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  37/11 / 09. September 2011

Der Antiquierte
Vom Reichsverteidiger zum linksliberalen Hegemon: Der Historiker Hans-Ulrich Wehler wird achtzig
Lennart Böhme

Am 11. September 1931 in Gummersbach als Sprößling zweier calvinistischer Clans geboren, wollte der in der Hitlerjugend zum Leistungsfanatiker erzogene, zum passionierten Mittelstreckenläufer und rückhaltlosen Bewunderer des Leistungsethikers Max Weber sich entwickelnde Hans-Ulrich Wehler im April 1945 zunächst einmal das Reich retten. An einer Panzersperre seiner Heimatstadt. Da aber der antrainierte Glaube  an die Macht des Willens nicht darüber hinwegtäuschen konnte, daß heranrollende US-Panzer nicht mit Pistolen zu stoppen sein würden, suchte Pimpf Wehler  „nach nüchterner Analyse der Gefechtssituation“ das Weite.

Wehler wäre nicht der auf „Strukturen“ und „Prozesse“ statt auf „Personen“ eingeschworene Historiker, wenn er dieses autobiographische Schmankerl nicht zur Generationserfahrung „objektivierte“. So ordnet er sich denn selbst in die „Generation 45“ ein. Die umfaßt mit den Jahrgängen 1928 bis 1942 alle Kinder und Jugendlichen, die den Krieg noch am eigenen Leibe zu spüren bekamen und als „Erlebnis“ zu verarbeiten hatten. Ein Teil dieser Alterskohorten, unter ihnen der früh mit einem US-Studienaufenthalt belohnte Kölner Geschichtsstudent Wehler, verschrieb sich mit ungebrochenem, nun des „ideologischen NS-Ballastes entkleideten“ Leistungswillen dem weltanschaulich-politischen Gegenentwurf zum Deutschen Reich, der parlamentarischen Demokratie und ihrer „westlichen Werte“.

Das polemisch begabte Energiebündel Wehler genoß schon im Doktorandenkolloquium Theodor Schieders den Ruf eines „Treitschke redivivus“. Als solcher, der als Wissenschaftler stets „politischer Professor“ und Meinungsmacher sein wollte, ist er unter umgekehrten Vorzeichen mit anderen „45ern“ wie Habermas, Dahrendorf, den Mommsen-Brüdern, Kocka & Co. richtig in Fahrt gekommen und zum Matador in jener linksliberalen Öffentlichkeit aufgestiegen, die sich in den 1960ern in der alten Bundesrepublik allmählich bildete, als „überall Studienfreunde schnell Zugang zu den Medien“ fanden oder in Redaktionen einrückten. 20 Jahre später war er sich der Hegemonie des eigenen Lagers so gewiß, daß er den „Vorstoß“ von „konservativen“ Kollegen im „Historikerstreit“ fast wie Hochverrat empfand und sich nicht lange bitten ließ, „um Contra zu geben“ an der publizistischen Panzersperre.

Die Doppelrolle als Wissenschaftler und öffentlicher Intellektueller ist dem Werk des Historikers schlecht bekommen. Seine monumentale „Deutsche Gesellschaftsgeschichte“ blieb, ganz in der Spur der verachteten Sänger des Kaiserreiches vom Schlage Treitschkes, pure „Legitimationsgeschichtsschreibung“, die ihr Verfasser aber, mitsamt vieler historisch unterfütterter EU-Geschichten, natürlich für politisch gerechtfertigt ansieht. Doch solche extrem ideologisierte Historiographie hat eben ihren Preis. Wehlers Deutungsmuster wie der deutsche Sonderweg oder der Primat der Innenpolitik gelten heute als antiquiert. Sein der sozialliberalen Ära des „Mehr Demokratie wagen“ verpflichtetes Programm von Geschichte als „emanzipative Historische Sozialwissenschaft“ taugt nur noch für Wissenschaftshistoriker der 1970er Jahre.

Zweischneidig ist daher der Versuch Bettina Hitzers, Wehlers „Bielefelder Schule der Sozialgeschichte“ in einer Sammlung mit „klassischen Texten“ zu kanonisieren (2010). Obwohl sie dabei auch die „Kontroversen“ um sein „Programm“ berücksichtigt, liest sich diese gut gemeinte Edition doch eher wie ein mumifizierender Abgesang auf eine eigentümlich ferne Epoche aus den halkyonischen Tagen der Bonner Republik.

Trotzdem ist die „Bielefelder Schule“ auch in der heutigen Wissenschaftslandschaft noch sehr präsent. Weniger allerdings mit ihren politizistischen Forschungsparadigmen als kraft institutioneller und medialer Vernetzung. Wehler, einem zünftigen On dit zufolge wie Habermas ein Virtuose der Machtausübung per Telefon, wird seit Jahrzehnten als ein seine Schüler erfolgreich auf Lehrstühle vermittelnder Einflußagent bewundert. Dank des C. H. Beck Verlages, der fast alljährlich eine kartonierte Ausgabe gesammelter Wehler-Polemiken ins Publikum wirft, dank Suhrkamp und Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen, wo die fast 200 Monographien zählenden ostwestfälischen „Kritischen Studien zur Geschichtswissenschaft“ erschienen sind, und wo das Bielefelder Hausblatt Geschichte und Gesellschaft seit 1975 im 36. Jahrgang steht, dank vieler linksliberaler Zeitschriften und Zeitungen, voran Die Zeit, welche die beiden Dioskuren Wehler und Habermas weidlich als Verlautbarungsorgane nutzen, ist deren kulturelle Hegemonie über den engeren akademischen Sektor hinaus auch 2011 weiterhin gesichert.

Daß Wehler als politischer Kommentator, Volkspädagoge und Lautverstärker des Zeitgeistes trotzdem noch rascher vergessen sein dürfte denn als Historiker, ist leicht zu prophezeien angesichts seiner Einlassungen zur deutschen Wiedervereinigung (1983: „bizarre, realitätsferne Konstruktion“) oder zur Vergangenheitspolitik, wo er sich nach 1989 über  „junge Russen“ wunderte, die seiner Singularitätsthese entgegenhielten: „Regen Sie sich doch mal ab mit Ihren Juden (…), wir kommen aus einem Land, wo es die zehnfache Zahl der Toten gab.“

Nur einmal, insoweit in seiner persönlichen Lebensbilanz wahrhaft „singulär“, ließ sich Hans-Ulrich Wehlers politische Urteilskraft von Realitätssinn beeinflussen: in seiner beharrlichen Warnung vor einem EU-Beitritt der Türkei. Leider sprechen die Machtkonstellationen heute aber dafür, daß auch dieses Engagement unter der zum 65. Geburtstag des alten Leichtathleten ausgegebenen Losung steht: „Arbeiten, um überholt zu werden.“

Foto: Hans-Ulrich Wehler: Der „politische Professor“ soll ein Virtuose der Machtausübung per Telefon sein

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