© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  37/11 / 09. September 2011

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weissmann

Die Landesausstellung Sachsen-Anhalts über den Naumburger Meister ist ein großer Publikumserfolg, muß aber bei den politischen Tugendwächtern von Anfang an erhebliche Unruhe ausgelöst haben. Die Initiatoren betonten gebetsmühlenartig die europäische Dimension, der Kurator Hartmut Krohm sprach von der bleibenden Gefahr „nationalistischer Vereinnahmung dieses Mannes“, Kulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU) vor allem über die Möglichkeit, die harmonischen deutsch-französischen Beziehungen rückwärts ins Mittelalter zu verlängern, und die Hamburger Wochenzeitung Die Zeit warnte etwaige „Patrioten“ unter den Besuchern vor falschen Erwartungen. Tatsächlich dürfte kaum jemand, der die Ausstellung besichtigt, mit der Idee gekommen sein, den „Schrein“ deutscher Kunst zu betreten. Aber der Ausdruckskraft des Werks, das der unbekannte Künstler des 13. Jahrhunderts geschaffen hat, den wir als Naumburger Meister bezeichnen, wird das nichts anhaben, sowenig wie die eigens durchgeführte „Dekonstruktion“ des Mythos der Stifterfiguren, insonderheit der Darstellung der Uta von Ballenstedt.

Solange das Leistungsprinzip nur fallweise, nicht grundsätzlich in Frage gestellt wurde, war Hoffnung. Seitdem man seine Abschaffung forciert, geht es nicht mehr um Ausnahmen von der Regel, kleine gnädige Korrekturen des unerbittlichen Anspruchs oder menschlich-allzumenschliche Durchstechereien, sondern um Willkür an Stelle eines plausiblen Gerechtigkeitsmaßstabs.

1931 schrieb Raymond B. Fosdick, nachmals Präsident der Rockefeller-Stiftung, in einem Beitrag für die Zeitschrift Foreign Affairs über die Stimmung in den USA während des Ersten Weltkriegs: „Der Verfasser dieser Zeilen erinnert sich eines Besuchs einer großen Versammlung in Neuengland, die unter Leitung einer christlichen Kirche abgehalten wurde. (…) Ein Sprecher verlangte, daß der Kaiser, sobald man seiner habhaft werden könnte, in kochendes Öl geworfen werden müsse, und die ganze Zuhörerschaft sprang auf die Stühle, um hysterisch Beifall zu brüllen.“

Mir ist eine Diskussion in Erinnerung, die ich vor Jahren mit einem Kunsthistoriker über die Uta geführt habe. Der Fachmann betonte, wie spät die Figur erst als herausragendes Werk entdeckt wurde, welche Bedeutung dem strategischen Vorgehen Wilhelm Pinders zukam, um sie im nationalen Bildprogramm zu verankern, und der Art, in der Walter Hege ihre Fotografie inszenierte, um jene Wirkung zu erzielen, die sie zum Inbegriff deutscher Weiblichkeit machte. Auf die Erwiderung, daß mich das alles nicht beeindrucke, zu stark sei die Faszination zuerst der Wiedergabe im Schulbuch, dann des unmittelbaren Eindrucks gewesen, den die Plastik auf mich machte, als ich sie im Sommer 1989 zum ersten Mal sah (kaum erkennbar im Chor des Doms, der wegen Energieknappheit in der untergehenden DDR nicht beleuchtet werden konnte, immer nur stückweise erfaßt vom Lichtkegel einer Taschenlampe). Darauf hob mein Gegenüber resigniert die Schultern und meinte: „Da kann man wirklich nichts machen.“

Vielleicht hat Grass’ anklagender Hinweis auf die Toten deutschen Soldaten in russischer Kriegsgefangenschaft weniger zu tun mit seinem verspäteten Bekenntnis zur eigenen Mitgliedschaft in der Waffen-SS. Vielleicht muß man sie in denselben Zusammenhang einordnen wie Hans Apels Wüten gegen den Verfall der evangelischen Kirche oder Helmut Schmidts sarkastische Bemerkung zum Mangel an nationalem Verantwortungsbewußtsein ausgerechnet in der Führungsspitze der Deutschen Bank. Da geht es nicht um späte Einsichten oder erfreuliche Bekehrungen. Es wird nur deutlich, daß diese Protagonisten der Linken über Jahrzehnte und sehenden Auges aus Motiven des Machtkalküls das Falsche gesagt und getan und sich mit dem Feind verbündet haben.

Es sollte darüber nachgedacht werden, ob nicht ein innerer Zusammenhang besteht zwischen massenhafter Kinderlosigkeit und der Volkskrankheit Depression.

Selbstverständlich gehört die Figur der Uta zur deutschen Ikonographie des 20. Jahrhunderts wie der Bamberger Reiter oder der Bremer Roland; dasselbe kann man für die Silhouette des Brandenburger Tors, des Kölner Doms oder der Marienburg behaupten. Bis in die Nachkriegszeit hätte fast jeder sie zuordnen können, nutzte man sie ganz offiziell, vor allem, um für den Gedanken der nationalen Einheit zu werben. Den Bruch bedeutete nicht der Untergang des NS-Regimes, es ging nicht um „Mißbrauch“ durch die braunen Machthaber, sondern um den Modernisierungsschub am Anfang der sechziger Jahre, als der Bundesbürger – noch bevor die APO marschierte – begeistert alles auf den Müll warf, was nach Vergangenheit roch.

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 23. September in der JF-Ausgabe 39/11.

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