© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  37/11 / 09. September 2011

Hinter der Wirklichkeit
Von Eingeweihten und Uneingeweihten: Verschwörungen sind an der Tagesordnung
Karlheinz Weissmann

Verschwörung ist immer. Von der stillen Übereinkunft zweier Geschwister, das dritte vom Spiel auszuschließen, über das Verhältnis von Ehebrecher und Ehebrecherin, das „Mobbing“ unter Berufskollegen, die Summe, die „unter dem Tisch“ von einem Geschäftspartner zum anderen wechselt, und die Seilschaft in der Partei bis zu den diskreten Absprachen zwischen Staaten, deren skandalöser Inhalt niemals an die Öffentlichkeit dringen soll.

Verschwörung beruht auf der Abrede über ein Geheimnis, dessen Offenbarwerden die Beteiligten für gefährlich halten. Das Wahren der Geheimnisse bedeutet Macht. Das kann man als praktische Folge der Verschwörung betrachten, aber davor steht, daß die Verschwörung selbst ein Intelligenzbeweis ist, so wie das Lügen. Beides hängt auf das engste zusammen, hat mit Empathie zu tun, der Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen und ihnen vorzugaukeln, daß man ihren Wünschen folgt, obwohl man in Wirklichkeit ganz andere Absichten hat und sie entsprechend zu manipulieren wünscht. Wenn wir für solche Täuschungsabsicht Verbündete finden, beginnt die Verschwörung.

Daß es sich um ein zentrales Thema handelt, kann an der Bedeutung der Verschwörung in unserer Kollektiverinnerung abgelesen werden. Die Mythen sind voll davon: die Götter Baal, Mot und Anat, die sich zusammentun, um den alternden El vom Thron zu stoßen, Rebekka, die mit ihrem Liebling Jakob Intrigen gegen den Vater Isaak und den Bruder Esau ersinnt, um dem das Erstgeburtsrecht streitig zu machen, Mordred, der im Verborgenen seine Anhänger sammelt, um Artus zu stürzen, Hagen, der mit König und Königin der Burgunder paktiert, um Siegfried zu ermorden.

Man könnte die Reihe endlos fortsetzen und weiter die Literatur nennen, die die Verschwörung wieder und wieder zum Thema gemacht hat: die Orestie des Aischylos, Shakespeares Königsdramen, die Bestseller von Dan Brown oder John Grisham.

Zu verweisen ist aber auch auf die tatsächliche Geschichte, die Bedeutung, die nicht nur Palastrevolten und Haremsintrigen hatten, sondern auch der Einfluß von Verschwörern gegen die bestehende Ordnung seit der Antike, vom Ersten Triumvirat über die Catilinarier, die Cäsarmörder, die Assassinen, Freimaurer, Dekabristen, die Carbonari und die im Dunkel des 20. Jahrhunderts operierenden Milliardäre oder Kaderparteien.

Wenn sich der Mensch als Individuum wie als Gattungswesen mit Verschwörung auseinandersetzen muß, bleiben ihm grundsätzlich zwei Möglichkeiten der Abwehr: Entlarvung oder Gegenverschwörung. Es hat seinen Grund, daß die erste Alternative immer die schwächere ist. Echte Verschwörungen lassen sich nur schwer aufdecken. Arkandisziplin ist ein Machtmittel ersten Ranges; nicht selten wird dem Verschwörer von seinesgleichen mit furchtbaren zeitlichen oder ewigen Strafen gedroht, wenn er die Geheimnisse verrät.

Daß wir praktisch nichts über die Pythagoreer, wenig über die  Mysterienkulte oder die druidischen Lehren oder das Ausmaß kommunistischer Unterwanderung des Westens wissen, hat damit zu tun. Und es ist im Grunde niemals festzustellen, wie viele unentdeckte Verschwörungen es in der Geschichte gegeben hat und weiter gibt.

Zudem besteht die Gefahr, daß die Entlarvung wahnhafte Züge annimmt, daß sich der einmal erhobene Vorwurf der Verschwörung nicht mehr entkräften läßt, weil jedes entlastende Argument sofort Verdacht erregt, Teil der Verschwörungsstrategie zu sein: daher die Zählebigkeit der „Weisen von Zion“ oder der Debatte über die Bedeutung des Verrats für den Erfolg der alliierten Invasion 1944, daher die nie endende Spekulation über die Ermordung John F. Kennedys oder das, was sich in „Area 51“ abgespielt hat oder welche Bedeutung die Konferenzen der Bilderberger haben.

Bleibt die Möglichkeit der Gegenverschwörung. Ihrem Selbstverständnis nach sind viele Verschwörungen Gegenverschwörungen, darauf ausgerichtet, einem übermächtigen Feind und dessen verdeckten Machenschaften zu begegnen. Der Rückzug der ersten Christen in den Untergrund hat damit genauso zu tun wie die Entstehung der sizilianischen Mafia im Kampf gegen die fremden Besatzer; im Auftreten der Illuminaten hat man vor allem den Versuch zu sehen, den Einfluß der Jesuiten zu konterkarieren, ein Ansatz, der in manchem der völkischen „Gegenmaurerei“ ähnelt oder dem, was nach Himmlers Willen das Wesen der SS ausmachen sollte, die er nicht nur als „Orden“ entwarf, sondern als Träger einer Strategie, die die große jüdisch-bolschewistisch-kapitalistische Weltverschwörung mit ihren eigenen Waffen schlagen sollte. Aber in den Kontext der Gegenverschwörung gehören natürlich auch alle nationalen Untergrundbewegungen des 20. Jahrhunderts, wie der Geheimbund der Mau-Mau im Kenia der fünfziger Jahre oder die ukrainischen Partisanen, die gegen die Truppen Stalins kämpften.

Über den Erfolg von Gegenverschwörungen ist kein einheitliches Urteil zu fällen. Aber leicht ist es, sich über die Entlarver zu mokieren. Verschwörungstheorien haben immer etwas von Soziologie der armen Kerle, simplifizieren, neigen zu absurden Vorstellungen und unkontrollierten Wucherungen, tendieren dazu, immer neue, immer weitere Beteiligte zu mutmaßen und irgendwann in allgemeinen Verdacht gegen alle und jeden umzuschlagen.

Der Hinweis auf die Gefahr der Paranoia ist aber nicht ausreichend. Denn bei aller Kritik der Verschwörungstheorien darf doch deren rationaler Kern nicht übersehen werden, der verankert ist in unser aller Wissen, welche Bedeutung und welchen Einfluß Verschwörungen besitzen können.

Daher rührt zuletzt der Erfolg aller Erzählungen, die dem Muster von „Fletchers Visionen“ – im Original „Conspiracy Theory“ (Warner Brothers 1997) – folgen: Es läßt wenige der Gedanke je ganz los, daß es eine Schauseite der politisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit gibt und ein Dahinter, daß sie in unsichtbaren Netzen zappeln, Erfolg oder Mißerfolg ihrer Handlungen abhängig ist von den Entscheidungen unsichtbarer Mächte, daß eine prinzipielle Scheidung zwischen Eingeweihten und Uneingeweihten wirkt und man leider zu letzteren gehört.

Foto: Szene aus dem Verschwörungsthriller „Fletchers Visionen“ (USA 1997): Es ist immer leicht, sich über Verschwörungstheoretiker zu mokieren

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