© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  37/11 / 09. September 2011

Traurige Bilanz am Hindukusch
9/11 und die Folgen für Deutschland: Sicherheitspakete, Milliardenausgaben und mehr und mehr Gefallene trüben den deutschen Kampf gegen den Terror
Rolf Dressler

Die Bilanz des deutschen Afghanistan-Engagements spricht für sich: 52 getötete deutsche Soldaten. Davon 34 im Zuge von Gefechten, Anschlägen oder durch die Wirkung von Sprengsätzen gefallen. Mehr als 200 deutsche Soldaten verwundet. Über 1.800 Behandlungen Posttraumatischer Belastungsstörungen (PTBS). Über 5.000 Soldaten und mehr als 200 deutsche Polizisten vor Ort. Die jährlichen Hilfen ab 2002 für den zivilen Aufbau seit 2010 auf bis zu 430 Millionen Euro nahezu verdoppelt, sowie – einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) zufolge – jährlich knapp drei Milliarden Euro für den Bundeswehreinsatz am Hindukusch.

Eine Bilanz, die sich vor zehn Jahren wohl keiner recht vorstellen konnte. Nur wenige Stunden nach den Horrorbildern im Fernsehen von den Anschlägen am 11. September 2001 sicherte Deutschland den US-Amerikanern sofort auch seine militärische Unterstützung zu. Nur, was haben all die gewaltigen physischen Anstrengungen und die Milliardenaufwendungen namentlich in Afghanistan seither konkret bewirkt?

Am Hindukusch, so war es gerade uns Deutschen immer wieder bedeutet worden, werde auch unsere Freiheit hier in Europa verteidigt – Originalton des seinerzeitigen SPD-Verteidigungsministers Peter Struck.

Unlängst nun wurde Deutschlands heutiger Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) mit einer Klartextbemerkung des Chefs einer Infanteriekompanie konfrontiert, die gerade von ihrem Afghanistaneinsatz zurückgekehrt war: „Wir erwarten von unserem Dienstherrn nichts mehr, dann kann er uns auch nicht enttäuschen ...“

Die geschmeidige Antwort de Maizières: Wenn der Offizier dies zynisch gemeint haben sollte, wäre es bitter; wenn man es aber positiv auslege in dem Sinne, daß er nicht bei allem, was er dienstlich tue, erst auf die Entscheidung seines Ministers warten müsse, dann fände er das gut; Mißstimmung unter Soldaten möge es ja durchaus geben, sie könne aber eben auch ein sehr willkommener Antrieb dafür sein, die Bundeswehr von Grund auf neu auszurichten auf neue Aufgaben.

Doch wofür haben bis jetzt bereits 52 deutsche Soldaten auf den Kriegsschauplätzen Afghanistans ihr Leben gelassen? Was ist hüben wie drüben, in der freien Welt und speziell in Afghanistan, durchgreifend zum Besseren gewendet worden, gemessen an den hochgesteckten Zielen und den hehren Entschlossenheitsbekundungen der Anti-Terror-Allianz bei den diversen Folgekonferenzen seit der Bonner Petersberg-Zusammenkunft unmittelbar nach der Zerstörung der New Yorker Twintowers am 11. September 2001? Gewiß, Deutschland reihte sich forsch und bereitwillig in die gemeinsame militärische und sicherheitspolitische Front ein – als „Teil der Völkergemeinschaft“ und mit dem erklärten Ziel zu verhindern, daß Afghanistan zentrales Rückzugsgebiet islamistischer Terroristen bleibe.

 Nur, die terroristischen Strukturen der Taliban und der Terrororganisation al-Qaida mit dem Planungs- und Operationszentrum Afghanistan haben bis heute Bestand. Maßgeblichen Anteil daran hat allem Anschein nach das stramm islamische Militärregime im direkt benachbarten Pakistan mit seiner zu fast hundert Prozent islamischen 130-Millionen-Bevölkerung. In diesem idealen Rückzugs- und Ruheraum frischen die Terroristen nach Bedarf ihre Waffen-, Munitions- und Sprengstoffbestände auf, trainieren Anschlagstechniken und schwärmen von dort nach Afghanistan und vorzugsweise nach Europa und – nach Deutschland aus.

Die bestürzende neueste Bilanz der deutschen Bundesregierung: Mehr als tausend islamistische Terroraktivisten haben die hiesigen Sicherheitsbehörden geortet, genau zehn Jahre nach „9/11“. Nach wie vor sickern sie vor allem in Europa ein, zumeist offenbar unerkannt, unenttarnt, unbehelligt. An „Nachwuchs“ scheint es ihnen nicht zu mangeln, weder in Afghanistan noch anderwärts, sogar auch im westlichen Ausland.

Dabei hatte die internationale Völker- und Staatengemeinschaft gleich nach dem Schock vom 11. September  ausdrücklich „die Verantwortung gegenüber allen Menschen in Afghanistan übernehmen“ wollen, die „kein Zurück zu den Schrecken des Taliban-Regimes“ wünschten. Mit anderen Worten: Dem islamistischen Terror sollte der angestammte Boden entzogen werden. Zuvorderst in Afghanistan, der Operationsplattform von Taliban und Osama bin Ladens Al-Qaida-Netzwerk. Das ist jedoch augenscheinlich bis heute nicht gelungen.

Trotzdem aber schreiben sich die deutschen Regierungen, gleich welcher Parteifarben, bis heute zugute, sie hätten mit ihrer Anti-Terror-Politik „auf die seit den Anschlägen vom 11. September 2001 gravierend veränderte Bedrohungsdimension des internationalen Terrorismus entschlossen reagiert“.

Hoher Fahndungs- und Ermittlungsdruck und eine umfassende Sicherheitsstrategie sollen Terrorplanungen bereits im Vorfeld durchkreuzen und Terrororganisationen zerstören. Die Ursachen des Terrorismus wolle man schon an den Wurzeln packen.

Gleich nach „9/11“ hatte der deutsche Gesetzgeber zwei Sicherheitspakete geschnürt: das Terrorismusbekämpfungsgesetz. Verschärft wurden zudem das Vereinsgesetz und das Gesetz zur Bekämpfung terroristischer Vereinigungen, beispielsweise durch Aufhebung des Religionsprivilegs. Dadurch ist es seither möglich, speziell auch radikal-islamische Vereinigungen in Deutschland zu verbieten. Dessenungeachtet muß die Bundesregierung anläßlich des 10. Jahrestages der Anschläge eingestehen, daß Deutschland inzwischen „von einem Durchgangsland zu einem der Zielländer des Terrorismus geworden ist“. Nun soll die Laufzeit der Anti-Terror-Gesetze deshalb um weitere vier Jahre verlängert werden. Eine entsprechende Gesetzes-initiative hat die deutsche Bundesregierung am 17. August beschlossen. In dieselbe Richtung zielen – auch auf europäischer Ebene – die (umstrittene) Vorratsdatenspeicherung sowie die zentrale Anti-Terror-Datei zum Abgleich von Personendaten von Polizeien und Nachrichtendiensten und eine spezielle Visa-Warndatei.

Die gemeinsame EU-Strategie fußt, wie es heißt, auf vier Säulen: Vorbeugung, Schutz, Verfolgung und Reaktion. Am 27. Oktober 2010 äußerte Kanzlerin Angela Merkel im Deutschen Bundestag, bei dem Einsatz dort habe es da und dort zwar manche Fortschritte gegeben – aber leider auch „zu viele Rückschläge“. Denn: Die Staatengemeinschaft habe das zentrale Ziel noch nicht erreicht, dem weltweiten Terrorismus „seine Heimstatt zu nehmen“, seine Basis Afghanistan vor allem. Und das trotz aller Anstrengungen: Ausbildung der afghanischen Armee und der Polizei, Wiedereingliederungsangebote an Terrorkämpfer, die ihre Waffen niederlegen und sich von Terror und Gewalt lossagen, Bau von Schulen und Straßen, Bildungsförderung und und und.

Osama bin Laden sei zwar inzwischen unschädlich gemacht worden, dennoch sei der Terrorismus keineswegs besiegt, erklärte die deutsche Bundeskanzlerin in ihrer Videobotschaft am 3. September 2011 anläßlich des zehnten Jahrestages der Terroranschläge. Im beherzten Kampf dagegen sollten wir uns jedoch „gewiß sein, daß wir dabei viele Verbündete haben“.

Wenn alles gut läuft, soll es dann Ende 2014 wenigstens keine internationalen Kampftruppen mehr in Afghanistan geben.

 

Deutsche Chronik nach 9/11

12. September 2001 Die Nato erklärt den Bündnisfall.

21. September 2001 Der Europäische Rat erklärt die Bekämpfung des Terrorismus als Hauptziel der Europäischen Union.

9. November 2001 Bundestag beschließt erstes „Antiterrorpaket“ (Terrorismusbekämpfungsgesetz): Aufhebung des Religionsprivilegs aus dem Vereinsgesetz. Dadurch wurde es möglich, radikal-islamische Vereinigungen zu verbieten.

5. Dezember 2001 1. Petersberger Konferenz. Deutschland sagt zu, sich militärisch in Afghanistan zu engagieren.

8. Dezember 2001 Verbot der islamistischen Vereinigung Kalifatstaat.

14. Dezember 2001 Bundestag verschärft nochmals die Gesetze vom Asylverfahrens- bis zum Vereinsgesetz. Die Kompetenzen der Ermittlungsbehörden und Nachrichtendienste werden ausgebaut.

22. Dezember 2001 Bundestag erteilt erstmals das Mandat für die Beteiligung der Bundeswehr am Isaf-Einsatz in Afghanistan.

Januar 2002 Deutschland beginnt Unterstützung des Polizeiaufbaus in Afghanistan auf der Grundlage einer bilateralen Vereinbarung mit der afghanischen Regierung.

14. Dezember 2004 Gründung des Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrums (GTAZ) in Berlin

15. Januar 2005 Inkrafttreten des Luftsicherheitsgesetzes (erlaubte der Bundeswehr, ein entführtes Passagierflugzeug mitsamt den Passagieren notfalls abzuschießen). 2006 vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt.

1. November 2005 Einführung des Biometrischen Reisepasses.

22. Dezember 2006 Einführung der zentralen Antiterrordatei. 

11. Januar 2007 Inkrafttreten des Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetzes. Gegenüber dem geltenden Recht werden die materiellen Voraussetzungen und Verfahrenssicherungen der Auskunftsbefugnisse nochmals erheblich abgesenkt.

17. August 2011 Bundesregierung verlängert Befugnisse des Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetzes um weitere vier Jahre.

Foto: Letztes Geleit für den Rückflug aus Afghanistan in die Heimat: Bundeswehrsoldaten tragen den Sarg eines Kameraden in eine  „Transall“

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