© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/11 / 02. September 2011

Der Sucher nach dem deutschen Wesen
Eine beachtenswerte Dissertation über den konservativen Kulturwissenschaftler Richard Benz (1884–1966)
Wolfgang Saur

In Zeiten einer permanenten wissenschaftshistorischen Ideologiekritik der Altmeister, zumal deren progressiver „Entnazifizierung“, stellt die Monographie zu Leben, Denken und Werk von Richard Benz eine kleine Sensation dar. Wenn nicht gar ein Meisterwerk. Begegnet uns doch nach den schier endlosen Haßtiraden hier eine hermeneutisch mustergültige Arbeit, eine von wohlwollend-kritischem Verstehen geleitete und mit subtilem Sinn gesetzte intellektuelle Biographie einer markanten Randfigur des Konservativismus im zwanzigsten Jahrhundert.

Vielleicht war Richard Benz der letzte Vertreter der unpolitischen „Kulturnation“. Sein geistgläubiger Antinaturalismus trug ihm im NS-Staat ebenso Mißtrauen und Verbote ein, wie nach 1945 bei den Alliierten sein Suchertum nach dem „deutschen Wesen“. Nachdem er im Auftrag der Stadt Heidelberg 1961 eine große Kulturhistorie verfaßte, die den Humanismus des Ortes beschwor, ehrt man seit 1977 dort sein Andenken durch die Preisvergabe einer Richard-Benz-Medaille für Wissenschaft und Kunst.

Benz war der Sohn des sächsischen Superintendenten und Hofpredigers, Edmund Benz. Seine Kindheit verbrachte er mitten im barocken Dresden, wo das Kind noch die feudalen Festlichkeiten der Wettiner miterlebte. Er studierte in Heidelberg, das ihm zur Wahlheimat wurde. Von Beginn an kritisch gegen den akademischen Betrieb gesinnt, hatte Benz mit seinen Lehrern Glück. Nachhaltig prägten ihn der Historiker Erich Marcks, der Philosoph Kuno Fischer und der Kunsthistoriker Henry Thode.

Schon früh zeigten sich die Keime seines späteren Denkens. Thode, Bayreuth familiär verbunden, propagierte Wagners Musikdrama. Das Gesamtkunstwerk wurde so für Benz das ästhetische Modell einer umfassenden Weltanschauung. Schopenhauer fügte den Gedanken eines „Primats der Musik“ hinzu. Seine Promotion zur Märchendichtung der Romantik (1907) führte ihn in deren Ideenkosmos und Formprinzipien ein.

Fortan Privatgelehrter und Autor, waren die nächsten Jahre angefüllt mit reicher Übersetzungstätigkeit. Behutsam adaptierte er 1910 alte deutsche Legenden, die in szenischer Gestalt der Freundeskreis aufführte, um Alternativen zum Theaterbetrieb aufzuzeigen. Es folgten 1910 bis 1912 zahlreiche alte „Volksbücher“. Sie galten Benz exemplarisch für den Genius kollektiver Sprachphantasie und den lebendigen Geist altdeutscher Kultur. Zum Klassiker wurde indes sein großes Übersetzungsprojekt der „Legenda Aurea“ (1917 bis 1921), des mittelalterlich lateinischen Legendenschatzes. Einleitend charakterisiert er die Legenda als große christliche Mythologie, ein Potential tiefsinniger Bilder und schöpferischer Grund, aus dem die Kunst sich erneuern könne.

Faßt man zusammen, worum es Benz fortan ging, wird man die Konzepte: Volk, Kunstwerk, Künste und Geschichte, Symbolik, Physiognomik, kulturgeschichtliche Methode exponieren. Volk bedeutete ihm Kulturgemeinschaft und organische Sinnform. Die autochthonen Völker sollen für sich bestehen, jedoch in friedlicher Koexistenz. Rassische und imperiale Aspekte lehnte Benz ab. Ebenso die individualistische Ästhetik: Vielmehr war das Kunstwerk wesentlich kollektiv. Einem geschichtlichen Wandel unterlagen die Künste insofern, als zumeist je nur eine epochal wirkte. Nach dem reformatorischen Ikonoklasmus rückte so die Kirchenmusik ins Zentrum. Erkenntnis galt Benz als symbolisches Sehen. Dies fundierte auch seinen typologischen Blick. Dem Zeittrend entsprechend, statuierte er eine Polarität von „romanischem Formtyp“ und „germanischem Metaphysiker“. In ihm gründet die „deutsche Wesenslinie“ von Gotik-Barock-Romantik-Expressionismus. Aus ihr, predigte er, sollte das Land sich erneuern.

Kulturpädagogische Wirksamkeit war mit steriler Wissenschaft unvereinbar. So legte Benz seine Schriften weniger analytisch und spezialistisch an, interessierte sich mehr für Synthese und Anschaulichkeit. Dies realisierte er methodisch und literarisch mit seiner integralen Darstellung, die weltanschauliche Gesichtspunkte mit einschloß. Das zeigt nicht zuletzt seine „Stunde der deutschen Musik“ (1923 bis 1927), mit der ihm der Durchbruch gelang. Er wollte das Werk als „Gesamtschau unserer Geistesgeschichte“, als ein „wahres Kompendium des geistig-künstlerischen Deutschtums“ verstanden wissen.

Mit dem neuromantischen Verlag Eugen Diederichs eng verbunden, publizierte er auch regelmäßig in dessen Zeitschrift, Die Tat. Eben dort erfuhr er die zunehmende Politisierung Ende der 1920er. Die neue Redaktion Hans Zehrers (1929) verdrängte den feinsinnigen Traditionalisten. Gleichwohl hielt Benz dem 1930 verstorbenen Verleger die Grabrede und publizierte im Hause noch die vielbeachtete Reichsschrift „Geist und Reich“ (1933).

Bezeichnend die polarisierende Rezeption: Trug sie ihm einerseits die Aufnahme in den exklusiven Weber-Kreis ein, so andererseits NS-Polemik, die Benz Verrat am völkischen und Rassegedanken vorwarf. So kam denn 1935 das Verbot. Die Nationalsozialisten beschuldigten den Autor, „erhebliche Verwirrung“ zu stiften und mit seiner „rein geistigen Reichsidee“, die NS-Rasseidee „anzugreifen“ und zu „verfälschen“. Er gehöre zur „Front der intellektuellen Reaktion“.

Benz zog sich in den im Verlauf der dreißiger Jahre von allen kulturpolitischen Themen zurück und warf sich ganz auf die Geschichte. Reclam veröffentlichte die Trilogie der großen Alterswerke: „Die deutsche Romantik“ (1937), „Deutscher Barock“ (1949) und „Die Zeit der deutschen Klassik“ (1953), deren interdisziplinärer Ansatz auch die zünftige Wissenschaft überzeugte.

Der Übervater aller Bildungsbürger verteidigte auch nach 1945 tapfer das deutsche Erbe, um dem tragischen Kulturbruch entgegenzuwirken. Bitter ironisierte er den Befund, die Deutschen seien nach 1945 „das traditionsloseste aller europäischen Völker“ geworden. „Der Glanz der Überlieferung sei erloschen. Der Idealismus war jetzt der schuldige Vater aller Ideologien; Romantik war Lebensferne oder frevelhafte Verstiegenheit gewesen; die Musik hatte uns taub gegen die wahren Erfordernisse der Realität gemacht; ihr Pathos, ihr Appell an die großen Gefühle wurde verpönt, weil man zu viele große Worte gehört hatte.“ Diese Polemik gegen den „deutschen Sonderweg“ hatte noch Jahrzehnte danach Konjunktur.

Schlampige Politikpromotionen haben in letzter Zeit die seriöse Arbeit der Wissenschaft ins Zwielicht gebracht. Auch deshalb ist die bestechende Qualität der vorliegenden Dissertation eigens zu betonen. Neben der „exakten Phantasie“ der Autorin, ihrer brillanten Einfühlungskraft und kritischen Umsicht bemißt sich der Wert ihrer Untersuchung nicht zuletzt nach dem gewaltigen Arbeitspensum. Die Flut der Benzschen Publikationen, die sie bis in die entlegenste Zeile kennt, vorausgesetzt, wurde die Monographie vollständig aus ungedruckten Quellen erarbeitet. Scialpi hat dafür nahezu zwanzig Archive ausgewertet. So wurzeln ihre Erkenntnisse in einer epischen Dokumentation, die die maximale Differenzierung ihres Gegenstandes ermöglicht hat.

Julia Scialpi: Der Kulturhistoriker Richard Benz. Buchreihe der Stadt Heidelberg, Band XIV. Verlag für Regionalkultur, Heidelberg 2010, gebunden, 375 Seiten, Abbildungen, 24,80 Euro

Fotos: Richard Benz, 1960: Deutsche als das „traditionsloseste aller Völker“ ; Richard Benz (stehend) mit den Autoren Lulu von Strauß und Torney, Ina Seidel, Paul Zaunert, Albert Talhoff gratulieren Eugen Diederichs (v.l.n.r.) zum 25. Verlagsjubiläum, Jena 1921: Erneuerung aus der Wesenslinie des Volkes aus den Kunstepochen

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