© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/11 / 02. September 2011

Das gesamtdeutsche Gewissen der Union
Zu Unrecht vergessen: In der Exil-CDU sammelten sich die aus der SBZ/DDR gefl üchteten Parteimitglieder / Nach dem Tode Jakob Kaisers sank der Stern
Christian Schwiesselmann

Spannungsvolle Stille im Raum. Erwartungsvolle Blicke richteten sich auf Jakob Kaiser, als dieser Ende September 1950 im Studentenhaus „Taberna academica“ am West-Berliner Steinplatz an das Rednerpult trat. Die Gründung der Exil-CDU stand auf der Tagesordnung. Anwesend waren 162 geflüchtete Mitglieder der SBZ-/DDR-CDU, darunter 11 von 14 Mitgliedern des 1947 gewählten Hauptvorstandes, zwei ehemalige Minister, 21 ehemalige Landesvorstandsmitglieder und 37 Kreisvorsitzende. Kaiser, ein Volkstribun und mittlerweile Minister für gesamtdeutsche Fragen in der Bonner Adenauer-Regierung, hatte sein Publikum im Griff: „Ich grüße alle Deutschen in der Sowjetzone. Ich grüße das das deutsche Land, das sich nach Osten an die Sowjetzone anschließt. (...) Ich grüße Euch, die Ihr um Eurer Überzeugung willen die Heimat in der Sowjetzone verlassen mußtet.“

Kaisers Konzeption eines Nachkriegsdeutschlands als Brücke zwischen Ost und West war zu diesem Zeitpunkt bereits gescheitert. Der in den christlichen Gewerkschaften und im Zentrum sozialisierte Politiker wußte, daß sich in Europa der Eiserne Vorhang auf lange Zeit gesenkt hatte: „Dieser unser heutige Parteitag ist bedrückend und ermutigend zugleich. Bedrückend, weil sie als Exiltagung die Zerrissenheit unseres Landes und das Schicksal der Sowjetzone in krasser Weise interpretiert. Ermutigend, weil sie Zeugnis für den ungebrochenen Widerstand der echten Sowjetzonen-Union ist.“

Kaisers Hauptschlacht als CDU-Vorsitzender in der SBZ war im Dezember 1947 geschlagen worden, als ihn die Sowjetische Militäradministration wegen seiner Weigerung, an der Volkskongreßbewegung der SED teilzunehmen, kurzerhand absetzte. Da der gelernte Buchbinder der zunehmenden Sowjetisierung der Gesellschaft Widerstand entgegensetzte, ja sich als „Wellenbecher des dogmatischen Marxismus und seiner totalitären Tendenzen“ empfand, hatte der Oberste Chef der SMAD, Wassili D. Sokolowski, ihm das Vertrauen entzogen. Damit entfiel im besetzten Nachkriegsdeutschland jede politische Geschäftsgrundlage.

Zusammen mit seinem Stellvertreter Ernst Lemmer und dem Großteil des erst im September 1947 gewählten Parteivorstandes sowie der Redaktion der Neuen Zeit – dem offiziellen CDU-Organ der SBZ/DDR – verließ Kaiser den Ostsektor. Das West-Berliner Büro Jakob Kaisers wurde zur ersten Anlaufstelle für geflüchtete CDU-Mitglieder aus der SBZ/DDR. Später baute es der geflüchtete Usedomer Landrat Werner Jöhren zum Ostbüro der West-CDU aus. Es sammelte Informationen über die DDR, startete Flugblattaktionen und geriet so schnell ins Visier der Staatssicherheit.

Jakob Kaiser betrachtete sich weiterhin als legitimer Hauptvorstand und sprach dem neuen Vorsitzenden der SBZ-CDU, Otto Nuschke, jede Legitimation ab. Die im September 1950 gegründete Exil-CDU fühlte sich daher als legitimes Pendant zur SBZ-CDU, die von der SED und den Sowjets sukzessiv gleichgeschaltet worden war. Gemeinsam mit dem Landesverband Oder/Neiße stellte der Goslarer Bundesparteitag die Exil-CDU mit den bundesdeutschen Landesverbänden gleich. Das Parteistatut billigte ihr über 75 stimmberechtigte Delegierte bei künftigen Parteitagen zu. Sie verstand sich als „Gesamtdeutsche Unruhe“ innerhalb der Bundesparteiorganisation. Jakob Kaiser, der zudem zum Chef der einflußreichen Sozialausschüsse gewählt wurde, verfügte damit über eine starke Hausmacht. Der letzte Vorsitzende der Exil-CDU, Siegfried Dübel, urteilt rückblickend: „Hätte Kaiser in Goslar gegen Adenauer kandidiert, wäre der viel populärere Kaiser wohl als Sieger aus der Wahl hervorgegangen.“

Adenauers Spürnase witterte zu Recht einen gewichtigen Antipoden in Kaiser. Es spricht für die List des rheinischen „Fuchses“, daß er Kaiser das symbolträchtige Ministerium für gesamtdeutsche Fragen antrug und ihn auf diese Weise in die Kabinettsdisziplin einband. Dieses Ministerium versuchte über eine Reihe von Vorfeldorganisationen (die später im Gesamtdeutschen Institut aufgingen) in die SBZ zu wirken und war der DDR-Staatssicherheit bald als „westdeutsche Agentenzentrale“ verhaßt.

Von der Personalunion des Ministeramtes und des Exil-CDU-Vorsitzes profitierte das Verbandsleben enorm. Entsprechend der organisatorischen Gliederung der DDR-CDU bis 1952 in die Länder Brandenburg, Mecklenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen gab es in der Exil-CDU fünf gleichnamige Landsmannschaften, die allesamt eigene Mitteilungsblätter herausgaben. Für die Brandenburger erschien der Märkische Adler, für die Thüringer der Wartburgfried. Als Sprachrohr des Gesamtverbandes fungierte seit 1955 die Stimme im Exil.

Der „Aufbau des Sozialismus“, der mit Kollektivierung der Landwirtschaft und der Zerschlagung des Mittelstands einherging, führte zu einer weiteren Flüchtlingswelle in die Bundesrepublik. Insbesondere der Volksaufstand in der DDR am 16. und 17. Juni 1953 war Wasser auf die Mühlen der Exil-CDU. Überzeugt von der baldigen Wiedervereinigung Deutschlands stellten die Landsmannschaften sogar Wahllisten mit christlich-demokratischen Kandidaten für das Gebiet der DDR auf. Der spätere Vorsitzende, Johann Baptist Gradl, bremste die Euphorie in den Landsmannschaften auf einer Hauptvorstandssitzung im Oktober 1953. Es könne nicht Aufgabe der Landsmannschaften sein, Schattenorganisationen für den Tag X zu bilden: „Alle Vorbereitungen in dieser Richtung müssen dem Ostbüro vorbehalten bleiben.“

Nach Kaisers Tod 1957 übernahm Ernst Lemmer das Kaiser-Ministerium und den Vorsitz in der Exil-CDU. Der Mauerbau dämpfte die Aussichten auf eine weitere Destabilisierung des Ulbrichtregimes. Schon 1960 hatte der ehemalige DDP-Reichstagsabgeordnete Lemmer die Lage der Nation vor dem Vorstand als nicht so günstig charakterisiert, da der deutsche Einfluß doch nicht so groß sei, wie man dachte, und der KPdSU-Parteichef Nikita Chruschtschow ein „durchaus erfolgreicher Geschäftsreisender in Sowjetpolitik“ sei. Die Entspannungspolitik und der Wechsel der CDU in die Opposition 1969 minderten die Bedeutung der Exil-CDU vollends. Hinzu kam das 1967 verabschiedete Parteiengesetz. „Infolgedessen wurde die Bundes-CDU restrukturiert und die Stimmrechte der Exil-CDU beschnitten“, erinnert sich Siegfried Dübel.

Gradl, der Lemmer 1970 im Vorsitz beerbte, versuchte die Organisation dieser neuen Entwicklung anzupassen. Anders als die Entspannungspolitiker in der Union blieb die Exil-CDU gegenüber der DDR allerdings unversöhnlich. Sie betrachtete sich angesichts von Mauer und Stacheldraht als „Störenfried“, der die Ostpolitik Willy Brandts nicht nachvollziehen mochte. Als Helmut Kohl in den 1980er Jahren die Brandtsche Annäherungspolitik fortsetzte, war die Exil-CDU kaum noch wahrnehmbar. Beim Bonner Honecker-Besuch 1987, so Dübel verbittert, war kein Vertreter dieses Verbandes mehr ins Kanzleramt eingeladen worden.

Von der Reisefreiheit für Rentner in den 1980ern profitierte zwar auch die Exil-CDU, die Kaiser-Truppen schmolzen aber immer mehr zu einem Traditionsverein zusammen. Wilhelm Czypull, der Sprecher der Landesgruppe Mecklenburg-Vorpommern – wie die Landsmannschaften inzwischen hießen – monierte mit Blick auf die politische Wende in der DDR im Herbst 1989: „Die Exil-CDU hat ihre politische Sternstunde verschlafen.“

Das Volk trieb die große Politik auf der Straße vor sich her. Der kleine Mann zwischen Rostock und Suhl wollte die deutsche Einheit und machte den Verband überflüssig. Auf ihrem letzten Parteitag in Oberhof 1990 löste sich die Exil-CDU daher auf. Übrig blieb ein Freundeskreis, der sich in Anlehnung an die ersten Vorsitzenden der SBZ-CDU „Andreas-Hermes/Walther-Schreiber-Kreis“ nennt. Man treffe sich bis heute regelmäßig, erklärt Dübel, der die Leitung des 1992 gegründeten Kreises aus Altersgründen an seinen Stellvertreter Henning Lemmer übergeben hat. Der Sohn Ernst Lemmers hält bis heute die Fäden zusammen.

Allerdings lichten sich altersbedingt die Reihen. Lemmer: „In den letzten Jahren hatten wir knapp dreißig Teilnehmer.“ Die Aufgabe der Exil-CDU sei es gewesen, den Einheitsgedanken in den westlichen Landesverbänden der bundesrepublikanischen CDU wachzuhalten, zieht das ehemalige Mitglied im Berliner Abgeordnetenhaus Bilanz. Insofern war die Auflösung nach der Wiedervereinigung konsequent.

Unzufrieden zeigt sich Lemmer indessen in der Frage der historischen Auseinandersetzung mit der DDR-CDU. „Fragen Sie mal heute ein Parteimitglied, wo die Partei gegründet wurde – im Rheinland werden Sie hören“, klagt der 1931 geborene Jurist gegenüber der JUNGEN FREIHEIT. Insgesamt sei in der Union kein historisches Grundwissen mehr vorhanden. Ein Indikator: Nach der Wende hat fast jede mitteldeutsche Stadt einen Konrad-Adenauer-Platz erhalten, aber nirgendwo findet sich eine Andreas-Hermes-Straße.

Foto: Plakat zur Gründungsversammlung der Exil-CDU am 24. September 1950 in Berlin: Kaisers Organisation war eine ständige Mahnung an die deutsche Einheit innerhalb der Adenauer-Union; Jakob Kaiser auf dem CDU-Parteitag, Berlin 1947: Wellenbrecher des Stalinismus; Ernst Lemmer 1961: Die Entspannungspolitik minderte die Bedeutung der Exil-CDU

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