© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/11 / 02. September 2011

Masseneinwanderung in der Spätantike
Roms Ruin
Wolfgang Kaufmann

Lange Zeit galt als sicher, daß das Römische Reich unter einem Massenansturm von Fremdvölkern zusammengebrochen war. Dann allerdings kamen die sechziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts mit ihren radikalen Paradigmenwechseln auf allen möglichen Gebieten. Nun wurde das Ende des Imperium Romanum bevorzugt auf hausgemachte Gebrechen zurückgeführt, als da beispielsweise wären: Aberglaube, Badewesen, chronische Bleivergiftung, Degeneration, Egoismus, Feinschmeckerei, Gicht, Hedonismus, Impotenz, Kinderlosigkeit, Lethargie, Materialismus, Nichternst, Orientalisierung, Psychosen, Quecksilberschäden, Rentnergesinnung, Sittenverfall, Traurigkeit, Überalterung, Verstädterung, Willenslähmung und Zölibat – die komplette Mängelliste umfaßt 210 Punkte.

Doch damit nicht genug: 1980 verstieg sich der in Toronto lehrende Historiker Walter A. Goffart außerdem noch zu der Behauptung, daß es überhaupt keine Krise mit nachfolgendem Untergang gegeben habe, sondern nur „ein phantasievolles Experiment, das ein wenig außer Kontrolle geriet“. Von da ab war es nicht mehr weit bis zur schwammig-neutralen Formel von der „Transformation of the Roman World“, welche einen überwiegend harmonischen Übergang zum System der Nationalstaaten suggerierte und damit natürlich viel besser zur Idee vom friedlich vereinten Europa paßte. Deshalb mutierte diese Phrase dann auch zum offiziellen Titel eines langfristig angelegten Großforschungsprojektes, das von der European Science Foundation finanziert wurde.

Ebenso herrschte bald weitgehende Einigkeit, daß man gut daran tue, die unbestreitbaren Wandlungen in der materiellen Kultur der verschiedenen Regionen des spätantiken Europa nicht als Folge spektakulärer Migrationswellen, ethnischer Säuberungen und Vertreibungen anzusehen, sondern als Ergebnis wirtschaftlicher, sozialer und politischer Veränderungen, welche die autochthonen Bevölkerungsgruppen in ihren angestammten Siedlungsgebieten aufgrund vergleichsweise sanfter Anstöße von außen selbst – und auch überwiegend freiwillig – vollzogen hätten.

Das heißt, das Phänomen der Massenmigration, genannt Völkerwanderung, wurde ganz explizit zu einer Fußnote in der bewegten Geschichte des ersten Jahrtausends degradiert; statt dessen reüssierte das Modell des „Elitentransfers und der anschließenden kulturellen Nachahmung“, in dem gewaltsame Bevölkerungsverschiebungen zur absoluten Quantité négligeable gerieten. Damit hatte das akademische Gutmenschentum einmal mehr die Geschichte uminterpretiert und zu einer rosarot kolorierten Karikatur ihrer selbst gemacht. Glücklicherweise beginnt das Pendel nun aber zurückzuschwingen. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung sind neuere Veröffentlichungen britischer Historiker wie Bryan Ward-Perkins und Peter J. Heather. So meinte der letztere zu Goffarts Thesen, derart weltfremd könne man nur argumentieren, wenn man „sich die Hände nicht mit Ereignisgeschichte schmutzig macht“. Stellen wir das Reinlichkeitsbedürfnis also einmal hintan und riskieren wir einen illusionsfreien Blick auf die seinerzeitigen Ereignisse.

Der Anfang vom Ende des Imperium Romanum fällt eindeutig auf den Sommer des Jahres 376 nach Christus. Zu diesem Zeitpunkt fühlten sich einige gotische Stämme von den Hunnen bedrängt und begehrten deshalb Asyl im Reich. Allerdings hätte Kaiser Valens damals noch – trotz seiner Probleme mit den Persern – die Möglichkeit gehabt, den Übergang der Goten über die Donau zu verhindern.

Doch wie der antike Chronist Ammianus Marcellinus berichtet, gab das Anliegen der Fremden „mehr zu Freude Veranlassung als zur Furcht. Hoben doch die erfahrenen Schmeichler das Glück des Kaisers hoch in den Himmel. Denn aus den entferntesten Ländern bringe es so viele Rekruten und biete sie wider Erwarten an.“ Der Wunsch, dem Mangel an eigenen „Fachkräften“ durch die Aufnahme von Migranten abzuhelfen, ist also mindestens anderthalb Jahrtausende alt. Und genauso alt scheint der Drang zu sein, die damit verbundenen Risiken zu ignorieren.

Jedenfalls währte die Freude über den Menschenzustrom weniger als ein Jahr, denn schon Anfang 377 begannen die Goten, Thrakien zu terrorisieren. Daraufhin versuchte Valens die Ordnung in der Provinz wiederherzustellen, erlitt aber im August 378 in der Schlacht von Adrianopel eine vernichtende Niederlage; der Kaiser selbst starb elendiglich, als die Goten ein Bauernhaus niederbrannten, in das er sich schwer verwundet geflüchtet hatte. Trotzdem aber setzte das Imperium weiter auf eine Assimilation der Flüchtlinge, was diese 410 damit vergalten, daß sie Rom plünderten – nicht ohne dem Senat zuvor noch ein nutzloses Schutzgeld von 5.000 Pfund Gold und 30.000 Pfund Silber abzupressen.

Genausowenig energisch fiel die römische Politik gegenüber den zahllosen anderen Einwanderergruppen aus, welche im Zuge der Völkerwanderung über die Grenzen gekommen waren. Die logische Konsequenz hieraus erlebte das Reich genau 100 Jahre nach Valens’ fataler Fehlentscheidung an der Donau: Am 4. September 476 wurde Romulus Augustus, der letzte weströmische Kaiser, von seinem Gardepräfekten Odoaker, einem scheinbar integrierten Vorzeige-Migranten der zweiten Generation, vom Thron gestoßen und in die Verbannung geschickt.

Zum Ende des 5. Jahrhunderts dominierten die eingedrungenen Fremdvölker also die Mitte und den Westen Europas, woraufhin hier ein Prozeß des rapiden Niedergangs einsetzte. Im Widerspruch zu jedweder romantischen Verklärung der angeblichen „Transformationen“ sank das zivilisatorische Niveau in vielen Regionen des Kontinents auf den Stand prähistorischer Zeiten: statt Geldwirtschaft gab es wieder Tauschhandel, viele Alltags- und Luxusgüter verschwanden völlig vom Markt, streckenweise verlernte man sogar den Gebrauch der altbekannten Töpferscheibe, die einstmals hochentwickelte Infrastruktur verfiel, das Bildungswesen war nur noch ein Schatten seiner selbst und die Landwirtschaft erlebte einen drastischen Produktivitätsrückgang, was ebenso zum Bevölkerungsschwund beitrug wie die nun verstärkt aufkommenden Seuchen und die permanenten Gewaltexzesse aufgrund des Fehlens einer staatlichen Rechtsordnung. Dies ist insofern paradox, als es ja gerade die Pax Romana und die zahllosen zivilisatorischen Errungenschaften gewesen waren, welche die Zuwanderer einstmals angelockt hatten.

Allerdings handelte es sich bei den Migrantengruppen, deren „Integration“ ins Reich letztlich dazu geführt hatte, daß das Imperium mit all den geschilderten Folgen kollabierte, keineswegs um komplette beziehungsweise homogene Ethnien, wie der Begriff „Völkerwanderung“ suggeriert. Vielmehr bildeten die Invasoren ebenso komplexe wie provisorische multikulturelle und multiethnische Koalitionen, bestehend aus hochmobilen aggressiven jungen Männern samt familiärem Anhang, in einer Größenordnung von jeweils nur einigen zehntausend Menschen. Die Eindringlinge von jenseits der Reichsgrenzen waren der autochthonen Bevölkerung also in jedem Falle zahlenmäßig unterlegen – und zwar oft sogar auf extreme Weise.

So stellten die eingewanderten Ostgoten selbst im nachrömischen Italien kaum mehr als zwei Prozent der Einwohnerschaft und nirgendwo überschritt der Migrantenanteil die Zehn-Prozent-Marke. Trotzdem aber ist es den Einwanderern gelungen, heftige politische, militärische und ökonomische Schockwellen auszulösen, in deren Folge sie innerhalb von zwei bis drei Generationen an die Macht gelangen und die römische Gesellschaft und Kultur ein für allemal zerstören konnten.

Deshalb sollte sich heutzutage niemand von den statistischen Angaben einlullen lassen, deren Zweck darin besteht, zu demonstrieren, daß die alteingesessene Bevölkerung ja immer noch die Mehrheit stelle. Das Ende des Römischen Reiches in den Wirren der Völkerwanderung ist ein überaus deutliches Menetekel dafür, daß auch ein prozentual geringer Anteil von Migranten die Aufnahmegesellschaft bis in ihre Grundfesten erschüttern oder gar komplett ruinieren kann, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind.

Um Klarheit über diese Bedingungen zu erlangen, empfiehlt sich nochmals ein Blick auf das Römische Reich. Wie der hellsichtige englische Historiker Edward Gibbon schon 1781 feststellte, litt die römische Widerstandskraft nicht zuletzt unter der neuen christlich-pazifistischen Einstellung: „Die Geistlichkeit verkündete mit Erfolg die Lehre der Geduld und des Kleinmutes, die Tatkraft der Gesellschaft wurde entmutigt, und die letzten Reste soldatischen Geistes wurden in den Klöstern begraben. Ein großer Anteil des öffentlichen und privaten Wohlstands wurde den trügerischen Forderungen von Mildtätigkeit und Hingabe geopfert; und der Sold der Soldaten wurde an nutzlose Menschenmengen beiderlei Geschlechts verschwendet, die sich nur auf die Verdienste von Abstinenz und Keuschheit berufen konnten.“

Ein weiteres Problem waren wegbrechende Steuereinnahmen, weil der Staat einerseits das wirtschaftliche Wohlergehen der eingeborenen Steuerzahler aus dem Auge verlor und andererseits immer größere Teile des eigenen Territoriums zur Ansiedlung wenig produktiver, aber mit Sonderrechten ausgestatteter Migranten verwendete, woraufhin aus diesen Enklaven bald keinerlei Steuern mehr flossen. Das wiederum führte zu einer schweren Finanzkrise, in deren Verlauf es ab 440 zu massiven Truppenreduzierungen und damit zu einer weiter wachsenden Wehrlosigkeit auf römischer Seite kam. Die vielfältigen Zugeständnisse an die Einwanderer – man könnte natürlich auch von einem selbstmörderischen Ausverkauf sprechen – resultierten daraus, daß die Kaiser vorrangig damit beschäftigt waren, gegen Rivalen aus den eigenen Reihen zu kämpfen, weswegen sie zur Vermeidung eines Zweifrontenkrieges gegenüber den Fremden auf Beschwichtigung setzen mußten.

Die Konsequenz aus diesem teuer erkauften Arrangement mit den Migrantenscharen waren aber nicht nur Steuerausfälle. Vielmehr kam es auch zu einem Loyalitätsverlust auf seiten der alteingesessenen Bürger, welche erleben mußten, daß die auf ihre Kosten mit Land und Geld alimentierten Fremden immer herrischer auftraten, ohne daß die nur noch auf Eigennutz bedachte Staatsführung etwas dagegen unternahm. Dieser Loyalitätsverlust wiederum animierte die Eindringlinge zu weiteren ausufernden Forderungen und schließlich zur kompletten Machtübernahme von innen heraus, denn ein Staat, mit dem sich kaum noch jemand identifiziert, weil er seine angestammte Bevölkerung im Stich läßt, ist ein leichtes Opfer für Erpresser und Usurpatoren aller Art.

Wenn es also tatsächlich eine Lehre aus der spätantiken Geschichte gibt, dann diese: Blindheit gegenüber den Gefahren einer unkontrollierten Migration kann eine Zivilisation vernichten beziehungsweise um Jahrhunderte zurückwerfen. Mit den Worten von Ward-Perkins: „Die Römer waren vor dem Untergang genauso wie wir heute sicher, daß ihre Welt für immer im wesentlichen unverändert bleiben würde. Sie lagen falsch. Wir wären gut beraten, nicht genauso selbstgefällig zu sein.“

 

Dr. Wolfgang Kaufmann, Jahrgang 1957, war Dozent an der Universität Leipzig und ist heute als freier Historiker tätig. Zuletzt schrieb er auf dem Forum über alternative Islamgeschichte („Beim Kreuz des Propheten“, JF 24/11).

Foto: Verwaister römischer Helm: Ein Staat, mit dem sich kein Bürger mehr identifiziert, ist ein leichtes Opfer für Erpresser und Usurpatoren aller Art

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