© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/11 / 02. September 2011

Venezuela läßt grüßen
Chile: Unter dem Ruf nach Bildungsreformen fordern linke Gruppierungen die Mitte-Rechts-Regierung heraus
Johannes Kaiser

Die Bilanz der Proteste für eine Bildungsreform ist erschreckend: ein Toter, zahllose Plünderungen und Brandschatzungen (darunter eine Kirche), 1.394 Festnahmen und 153 schwerverletzte Polizisten.

Im Zuge des von der Gewerkschaftszentrale (CUT) ausgerufenen und nur teilweise befolgten Generalstreiks zur Unterstützung der Forderungen von Studenten und Schülern wurde die chilenische Hauptstadt vergangenes Wochenende von einer ungewohnt heftigen Welle der Gewalt überrollt. Präsident Sebastian Piñera zeigte sich geschockt und mahnte dazu „diejenigen zu isolieren, die sich gegen einen offenen und produktiven Dialog aussprechen würden“ .

Schaut man allein auf die wirtschaftlichen Daten Chiles, so verwundern die Proteste. Denn das Land weist, mit sechs Prozent Wirtschaftswachstum und über 500.000 zusätzlichen Arbeitsplätzen innerhalb des letzten Jahres, sehr gute makroökonomische Eckdaten vor.

Dennoch ist die Bildungsproblematik eine nicht wegzudiskutierende Realität. Ja, es herrscht allgemeiner Konsens darüber, daß die Jugend unter einem in weiten Teilen anachronistischem Bildungssystem leiden muß, das sich sowohl qualitativ, als auch finanziell, als nachteilig für die ärmeren Bevölkerungsschichten erweist. So werden Studienkredite unter unzumutbaren Zinsbedingungen vergeben, und auch die monatlichen Studiengebühren entsprechen einem chilenischen Mindestlohn (circa 268 Euro). Angesichts dieser Daten ist es kein Wunder, daß die Studenten mit ihren Reformwünschen auch in Meinungsumfragen hohe Sympathiewerte erreichen.

Das Problem: Studentenvertretung und Lehrergewerkschaft werden von Mitgliedern der Kommunistischen Partei angeführt. Diese Partei, die sich als marxistisch-leninistisch definiert, verfügt, trotz geringer Unterstützung bei den allgemeinen Wahlen (fünf Prozent), in den beiden Organisationen über eine solide Machtbasis.

Entsprechend haben die von den Organisatoren der Proteste erhobenen Forderungen zumeist wenig mit Bildungsthemen zu tun. Stattdessen vernimmt man Forderungen nach Verstaatlichung der Kupferminen, Abschaffung der Privatschulen und die Etablierung einer verfassunggebenden Versammlung nach venezolanischem Muster.

Monatelange Proteste und die Eskalation der Gewalt setzen die Mitte-Rechts-Regierung von Präsident Sebastian Piñera, die erst seit eineinhalb Jahren im Amt ist und mit niedrigen Umfragewerten zu kämpfen hat, unter Druck. Zwar hat sie bereits ein Paket geschnürt, das zusätzliche Investitionen in einer Höhe von vier Milliarden US-Dollar für den Bildungsbereich vorsieht, und parallel dazu mehrmals zu einem offenen Dialog mit allen Beteiligten aufgerufen, wobei signalisiert wurde, daß viele der bildungsrelevanten Forderungen erfüllt würden (Finanzierung und Anhebung der allgemeinen Bildungsqualität an den öffentlichen Schulen). Dies alles hat aber nicht zu einer Beruhigung der Lage geführt.

Dennoch hat sich die kommunistische Studentensprecherin Camila Vallejo Anfang dieser Woche bereit erklärt, Gespräche aufnehmen zu wollen, beharrt aber auf ihren bildungsfremden Maximalforderungen und verlangt dazu noch den Rücktritt von Innenminister Rodrigo Hinzpeter. Ungeachtet dessen bat Präsident Piñera die Studenten darum, „guten Willen zu zeigen“ und „bereit zu sein, die Probleme zu lösen, anstatt sie weiter zu verschlimmern“.

Foto: Schüler- und Studentenproteste in Santiago: Bildungs- und vor allem Verstaatlichungsthemen sollen die Festen des Staates erschüttern

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