© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/11 / 02. September 2011

Atalanta oder die Kunst des Möglichen
Sicherheitspolitik: Die Bundeswehr als „Armee im Einsatz“ ist angesichts der schwindenden Bedeutung Europas in der Welt ein Anachronismus
Hans Brandlberger

Vor kurzem hat der deutsche Flottillenadmiral Thomas Jugel für die kommenden vier Monate das Kommando über die Operation „Atalanta“ am Horn von Afrika übernommen. Die Bundeswehr trägt damit offiziell seit dem 1. September erstmals die Führungsverantwortung für diese seit Ende 2008 andauernde maritime Mission der Europäischen Union. Darüber hinaus verstärkt sie auch ihre eigenen Kräfte vor Ort. Zur Fregatte „Bayern“, die bereits im Golf von Aden im Einsatz ist und nunmehr als Flaggschiff der Operation fungiert, wird demnächst die Fregatte „Köln“ stoßen.

„Atalanta“ hat im Kern einen humanitären Auftrag: Die durch Staatszerfall und Bürgerkrieg drangsalierte Bevölkerung Somalias ist seit langem auf Hilfslieferungen des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen angewiesen. Der Transport über See bedarf des Schutzes, damit die Fracht nicht leichte Beute von Piraten wird, die in der Region omnipräsent sind. In diesem Jahr hat sich die Versorgungslage der Bevölkerung dramatisch verschlechtert, weil sie überdies von einer Dürrekatastrophe heimgesucht wurde, von der weite Teile Ostafrikas betroffen sind. Auch „Atalanta“ ist daher besonders gefordert, wenn es gilt, die Hungersnot in der Krisenregion einzudämmen.

Mit Sicherheitspolitik im herkömmlichen Sinn hat dieses Engagement der Bundeswehr allerdings nur wenig zu tun. Es handelt sich aber auch nicht um einen jener zahlreichen humanitären Hilfseinsätze, die sie seit ihren Anfängen weltweit geleistet hat. Gefragt sind am Horn von Afrika nicht ihre Fähigkeiten auf den Gebieten Logistik und Katastrophenmanagement, sondern genuin militärische. Ausgestattet mit einem verhältnismäßig „robusten“ Mandat soll das deutsche Marinekontingent notfalls unter Einsatz von Waffengewalt nichtstaatlichen Akteuren entgegentreten, die im Operationsraum zivile oder auch militärische Schiffe attackieren.

„Atalanta“ mag aber als typisch für jene Missionen gelten, in denen sich die deutschen Streitkräfte nach den Vorstellungen von Thomas de Maizière (CDU) in Zukunft in erster Linie zu bewähren haben. Mehr und mehr, so orakelte der Verteidigungsminister jüngst in einer Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag, würde die Bundeswehr in Einsätze geschickt werden, die sich nicht aus einer spezifisch deutschen Interessenlage ableiten ließen, sondern aus der „Verantwortung“ unseres Landes für das Wohlergehen der Staatengemeinschaft insgesamt resultierten. Diese Nebenbemerkung ist ein Eingeständnis und eine Flucht nach vorn zugleich. Anders als seine Amtsvorgänger scheint de Maizière weniger darauf aus zu sein, die Kritik einer breiten Bevölkerungsmehrheit am Engagement der Bundeswehr in weit entfernten und unser Land eigentlich nichts angehenden Weltregionen mit kühnen Argumentationen kontern zu wollen, nach denen beispielsweise unsere Sicherheit und vielleicht sogar unsere Freiheit am Hindukusch verteidigt würden. Er stilisiert statt dessen das, was für die Bürger nicht einsichtig ist, zu einer moralischen Pflicht, der sie sogar mit ein wenig Stolz nachkommen dürfen, da sie doch mit ihrem Verantwortungsgefühl zum Ansehen Deutschlands in der Welt beitragen können.

Als tragfähige Legitimationsgrundlage für den Umbau der Bundeswehr zu einer „Armee im Einsatz“, die der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik Optionen zur militärischen Intervention an die Hand gibt, ist dergleichen jedoch kaum zu betrachten, sieht doch das Grundgesetz eigentlich nur vor, daß der Bund Streitkräfte zu seiner Verteidigung aufstellt. Die Berechtigung dieses Verfassungsauftrages war in der Ära des Kalten Krieges evident, galt es schließlich, der militärischen Bedrohung durch die Sowjetunion und ihre Satellitenstaaten etwas entgegenzusetzen, um diese vor einer gewaltsamen Ausweitung ihres Machtbereiches in Europa abzuschrecken und auch bei Erpressungsversuchen politische Handlungsfreiheit zu bewahren. Über mehr als drei Jahrzehnte ist die Bundeswehr der viel belächelten Devise, kämpfen zu können, um nicht kämpfen zu müssen, erfolgreich gefolgt. Auch gegenüber einer Bevölkerung, die ihre Aufstellung mit Skepsis begleitete und diese nie ganz ablegte, hat sie sich in enger Auslegung ihres Auftrages als notwendiges Übel Respekt erworben.

Mit der Auflösung des Warschauer Paktes und der Sowjetunion vor mehr als zwanzig Jahren stellte sich die Frage nach der Daseinsberechtigung und dem Auftrag deutscher Streitkräfte jedoch völlig neu. Es ist nicht einem Mangel an gedanklicher Präzision zuzuschreiben, daß die seither amtierenden Bundesregierungen auf sie lediglich vage Antworten zu formulieren wußten. Tatsächlich ist die der Korsettstangen des Ost-West-Gegensatzes beraubte weltpolitische Sicherheitslage komplex und unübersichtlich geworden. Fest steht allein und immerhin, daß eine militärische Bedrohung des deutschen Staatsgebietes durch einen potentiellen Aggressor in der Nachbarschaft heute als sehr unwahrscheinlich angesehen werden kann.

Die oft ironisierte Floskel, daß Deutschland nur noch von Freunden und Partnern umgeben sei, ist in sicherheitspolitischer Hinsicht zutreffend. Nichts anderes gilt im Kern für die EU- und Nato-Mitglieder an der östlichen Peripherie: Das in Finnland, Norwegen oder den baltischen Staaten immer noch anzutreffende subjektive Empfinden, einer latenten Bedrohung ausgesetzt zu sein, ist aus historischen Reminiszenzen und nicht aus einer sachlichen Lagebeurteilung gespeist. Streitkräfte sind jedoch zu kostspielig, als daß sie auf bloß vorstellbare Risiken, für die es abseits der Phantasie keinen Anhaltspunkt gibt, ausgerichtet werden dürften. Eine Absicherung gegen alle Eventualitäten ist nie möglich, und heute die Priorität auf die klassische Landes- und Bündnisverteidigung zu legen hieße, sich einem Borderline-Syndrom hinzugeben, und nicht, verantwortungsvolle Sicherheitspolitik zu betreiben.

Folgerichtig sind die Fähigkeiten für raumgreifende Landoperationen in Europa weitgehend abgebaut worden. Die Umfänge der Streitkräfte wurden drastisch reduziert, und ein Festhalten an der Wehrpflicht ist unterdessen die Ausnahme. Waffensysteme, die auf das potentielle Kriegsbild in der Zeit des Ost-West-Konflikts zugeschnitten waren, gelten heute als Luxus, den sich immer weniger Armeen leisten wollen. Sie müssen ihre knapper gewordenen Ressourcen stattdessen auf die Bewältigung neuer „Risiken und Herausforderungen“ konzentrieren, mit denen sie ihren Regierungen zufolge konfrontiert sind.

An sicherheitspolitischen Problemfeldern herrscht dabei kein Mangel. Sowohl das 2006 veröffentlichte Weißbuch der Bundesregierung wie auch die einschlägigen Dokumente des Verteidigungsministeriums weisen hier eine illustre Zusammenstellung auf, die von Terrorismus und internationaler organisierter Kriminalität über die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen an staatliche wie nichtstaatliche Akteure bis hin zu sogenannten „gescheiterten Staaten“ reicht, die zu regionaler Instabilität führen und das Risiko von Bürgerkriegen und humanitären Katastrophen bergen. Allen diesen Herausforderungen ist gemein, daß ihnen auch – und in der Regel sogar vor allem – mit zivilen Instrumenten zu begegnen ist. Selbst im kriegsähnlichen Szenario des Afghanistan-Einsatzes wird ein sogenannter „comprehensive approach“ verfolgt, der Sicherheit mit staatlichem und wirtschaftlichem Aufbau verknüpft.

Leider gibt es jedoch in der Sicherheitspolitik keinen Anspruch darauf, daß Probleme, die als solche erkannt wurden, auch gelöst werden können. Relevant ist daher nicht, was wünschenswert wäre, sondern was tatsächlich erreichbar ist. Nicht nur der für sich betrachtet zu vernachlässigenden Mittelmacht Deutschland, sondern auch der Nato und der EU insgesamt sind hier enge Grenzen gesetzt. Mit den weltweiten Abhängigkeiten, die die Globalisierung bewirkt, geht nicht notwendigerweise eine Zunahme des weltweiten Einflusses einher. Jener der Europäer dürfte vielmehr sogar weiter schwinden, da ihr demographisches Gewicht abnimmt, ihnen die Haushaltsmittel zum Unterhalt von Streitkräften ausgehen und aufstrebende Regionalmächte keine Einmischung in ihrer Nachbarschaft dulden.

Der Umbau der Bundeswehr wie auch der verbündeten europäischen Streitkräfte unter der Maxime einer besseren Befähigung zum weltweiten Einsatz ist daher anachronistisch und, um die Terminologie des deutschen Verteidigungsministers aufzugreifen, unverantwortlich – gegenüber der Staatengemeinschaft, den Steuerzahlern und nicht zuletzt den Soldaten. Dazu fällt auch die Bilanz westlicher Stabilisierungsbemühungen nach dem Ende des Kalten Krieges zu mager aus: Erfolgreich waren die Europäer und ihre amerikanischen Verbündeten lediglich „vor ihrer Haustür“ auf dem Balkan. Allerdings sahen sie sich nicht imstande, das Blutvergießen frühzeitig zu unterbinden, und zentrale politische Probleme der Region harren unverändert einer Lösung.

Wo immer die Europäer oder die Amerikaner in den vergangenen zwei Jahrzehnten außerhalb ihrer Hemisphäre intervenierten, haben sie ihre Ziele nicht erreicht oder sogar eine größere Instabilität hinterlassen, als sie anfänglich vorfanden. Auch die den Bürgern durchaus einleuchtende Operation „Atalanta“ stellt hier keine Ausnahme dar. Zwar hat sie die für Somalia bestimmten Hilfsgüter erfolgreich eskortiert. Obgleich ihr im Operationsgebiet weitere internationale Missionen sowie Schiffsverbände unter nationaler Verantwortung zur Seite stehen, stieg die Zahl der Überfälle von Seeräubern aber weiter an. Diese drohen überdies Nachahmer an anderen afrikanischen Küsten zu finden.

 

Kampf gegen Seepiraterie

Der „freie und ungehinderte Warenhandel“, die sichere Rohstoffzufuhr liegen im Interesse der deutschen Sicherheitspolitik, heißt es im offiziellen Weißbuch der Bundesregierung. Als führende Exportnation müsse Deutschland also auch für die Sicherheit der Seewege eintreten. Beeinträchtigt wird diese vor allem durch die zunehmende Piraterie.

Laut „International Maritime Bureau“ (IMB) gab es im vergangenen Jahr 445 Piratenüberfälle, davon 266 im Seegebiet vor Somalia (siehe Karte). In 69 Fällen insgesamt waren Schiffe deutscher Eigner betroffen (31 am Horn von Afrika), allerdings fuhren nur fünf davon unter deutscher Flagge. Zwischen 2006 und 2010 waren 41 Besatzungsmitglieder von Schiffen unter deutscher Flagge und 146 Besatzungsmitglieder von Schiffen deutscher Eigner unter Fremdflagge durchschnittlich rund zwei Monate als Geiseln in der Hand von Piraten. Nach Erkenntnissen der Bundesregierung wurden seit 2008 insgesamt etwa 23 Millionen US-Dollar Lösegeld bezahlt. Eine amerikanische Denkfabrik bezifferte die Kosten der Piraterie allein für das Jahr 2010 auf fünf bis neun Milliarden Euro.

Je nach Stellung innerhalb der Hierarchie verdient ein somalischer Pirat pro erfolgreicher Schiffsentführung etwa 5.000 bis 15.000 US-Dollar. Den Golf von Aden passieren jährlich rund 30.000 Schiffe. Außer der seit dem 1. September unter deutschem Kommando stehenden EU-Operation „Atalanta“ beteiligen sich auch Großbritannien, Rußland, China, Indien, Malaysia, Japan sowie die Vereinigten Arabischen Emirate mit Kriegsschiffen an der Pirateriebekämpfung. Zu den Maßnahmen gehören unter anderem die Begleitung und Bewachung von Handelsschiffen in Konvois, zum anderen aber auch die Bekämpfung von Angriffsbooten und Mutterschiffen der Piraten.

Eine Sicherung deutscher Schiffe durch Bundespolizisten – wie von Reedern oder der Gewerkschaft der Polizei gefordert – hat die Bundesregierung abgelehnt. Dies würde nach Schätzungen pro Jahr 150 Millionen Euro kosten und wegen des Personalwechsels zahlreiche internationale Verträge notwendig machen. Stattdessen befürwortet Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) den Einsatz staatlich zertifizierter privater Sicherheitsdienste an Bord deutscher Schiffe. Kritik daran kommt von den Küstenländern: Sowohl Hamburgs Innensenator Michael Neumann (SPD) als auch der niedersächsische Innenminister Uwe Schünemann (CDU) bekräftigten, der Schutz deutscher Frachtschiffe sei eine „hoheitliche Aufgabe“, die in erster Linie von der Marine sowie der Bundespolizei wahrgenommen werden müsse.

Foto: Signalflagge „Ich treibe vor Anker“, deutsche Soldaten im Einsatz gegen Piraten: Sinnbildlich für die deutsche Sicherheitspolitik

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