© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/11 / 02. September 2011

Abschied von einem deutschen Mythos
Ende der Volksparteien: Der Journalist Christoph Seils sieht den Populismus und plebiszitäre Elemente auf dem Vormarsch
Michael Paulwitz

Die „Volksparteien“ sind am Ende, und mit ihnen der Parteienstaat und der schuldenfinanzierte Wohlfahrts- und Umverteilungsstaat, den sie sich so komfortabel eingerichtet haben. Christoph Seils liefert dazu eine stringente Analyse. Seine Prognose: Parteien müssen sich von Mitglieder- zu Medienparteien wandeln, Populismus und plebiszitäre Elemente werden zu prägenden Faktoren, ein Vielparteiensystem bedeutet nicht notwendig Instabilität, und für eine neue „rechtspopulistische“ Partei gibt es viel Potential und eine realistische Chance.

Am Befund gibt es wenig zu rütteln. Mitte der Siebziger haben noch über 90 Prozent der Wähler bei Union oder SPD angekreuzt, 2009 nur noch 56,8 Prozent. Die niedrigere Wahlbeteiligung eingerechnet, stehen sogar nur noch 40 Prozent der Wahlberechtigten hinter CDU, CSU und SPD; nimmt man noch die nicht wahlberechtigten Einwanderer dazu, sind es sogar nur 37 Prozent der Einwohner.

Die Gründe für die „Parteiendämmerung“ sind vielfältig. Die festgefügten Milieus – Seils definiert sie als „Erfahrungs- und Schicksalsgemeinschaften“ und damit per se veränderlich – sind seit den sechziger Jahren in Auflösung, die mobilisierenden geistigen Frontstellungen der Nachkriegszeit („Freiheit oder Sozialismus“) abhanden gekommen. Moderne Kommunikation und schrumpfende Spielräume für echte Entscheidungen nagen ebenso an der dominanten Position der Parteien wie gesellschaftlicher Individualismus und widerstreitende Gruppeninteressen.

Trotzdem will jede Partei von einiger Relevanz Volkspartei werden oder bleiben. Für Seils ist die „Volkspartei“ ein deutscher Mythos, am ehesten mit dem englischen Begriff „catch-all-party“ zu übersetzen. Auch die Tatsache, daß die erste echte Volkspartei die NSDAP war, konnte diesem Mythos wenig anhaben. Das Volksparteikonzept bot nämlich eine Rechtfertigung, den Staat zur Beute der Parteien, zum Parteienstaat zu machen.

Wesentliches Mittel hierzu war die Ämterpatronage, die die Mitgliedschaft in einer großen Volkspartei zum
Karrierehebel machte, dadurch den Parteien dauerhaften Zustrom sicherte, aber auch die weltanschaulichen Bindungen auflöste und durch Karrierismus ersetzte. Das Karrieremotiv verliere an Bedeutung und lasse die Mitgliederzahlen zurückgehen, meint Seils; angesichts der zunehmenden parteipolitischen Durchdringung auch der Verwaltungen eine kühne These. Eher ist es wohl so, daß nur noch die Mittelmäßigen kommen.

Seils’ Sympathie für die Grünen, bei denen er als junger Mann selbst politische Gehversuche unternahm, schlägt in einigen ideologischen Schlenkern durch: Etwa wenn er statt der Groß- die „Patchworkfamilie“ dominieren sieht (in der Realität ist noch immer die Kleinfamilie das Normalmaß) und die Häufung von Kinderlosen, Geschiedenen und Homosexuellen auf den Regierungsbänken als Symbol gesellschaftlichen Wertewandels und nicht etwa der Abgehobenheit der politischen Klasse vom Leben der Normalen betrachtet. Daß viele eingewanderte Einwohner weder Bürger- noch Wahlrecht haben, ist für Seils ein Ärgernis, das er durch unterschiedslose Ausländerwahlrechte beheben will; daß dahinter eine falsche Einwanderungspolitik steht, die eine Identifikation mit Deutschland und seinem Staatsvolk wenig erstrebenswert erscheinen läßt, kommt ihm nicht in den Sinn, weil er Demokratie als formales Regelspiel betrachtet und nicht als Organisationsform des politisch formierten Volkes, der Nation.

Leider versäumt Seils, die Rolle der Medien kritisch zu hinterfragen, denen die Grünen so viel von ihrem Aufstieg zu verdanken haben. Zwar erwähnt er die politische Instrumentalisierung des Verfassungsschutzes durch die Volksparteien zum Niederhalten unerwünschter Konkurrenz und verschweigt dabei den unfairen Umgang mit den Republikanern nicht, reflektiert aber nicht, daß auch Meinungsmacher aufgrund ihrer Voreingenommenheiten selbst Partei sein können und oft genug sich in Ausgrenzungskumpanei mit den etablierten Parteien begeben. Die Kritik an der übergroßen Rücksicht, die Volksparteien entgegen den Gesetzen der Mediendemokratie auf bedeutungslos gewordene Stammwählermilieus wie Vertriebene oder Katholiken nähmen, ist deshalb verfehlt: Sie bedeutet in der Konsequenz, die Themensetzungskompetenz allein den Medien zu überlassen.

Die Mediendemokratie verführt zum Populismus – Bundeskanzler Gerhard Schröder und Außenminister Guido Westerwelle mit seinem Ausflug in die „spätrömische Dekadenz“ sind für Seils klassische „Regierungspopulisten“. Zunehmende populistische Mobilisierung öffnet neue Räume für politische Außenseiter. Rechtspopulistische Parteien könnten sich entlang der neuen Konfliktthemen profilieren, die die etablierten Parteien nicht zur Wählermobilisierung nutzen können: Globalisierung und Europa, internationale Militäreinsätze und Weltaußenpolitik, Einwanderung und Islam. Seils: „Ein modernisierter Rechtspopulismus, der vorgibt, aus der Geschichte gelernt zu haben, der sich nicht an der Relativierung des Holocaust oder der Kriegsschuld abarbeitet, der nicht an rechtskonservative Weltbilder anknüpft, sondern sich gesellschaftspolitisch fortschrittlich präsentiert, ein solcher Rechtspopulismus könnte auch in Deutschland sehr schnell und dauerhaft erfolgreich sein.“ Möge er recht behalten.

Christoph Seils: Parteiendämmerung oder: Was kommt nach den Volksparteien? wjs-verlag, Berlin, 2011, gebunden, 200 Seiten, 16,90 Euro

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