© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  35/11 / 26. August 2011

Stalins Geiseln von der Wolga
Vor siebzig Jahren begannen Deportation und Mord an den Rußlanddeutschen
Robert Korn

Am 28. August 2011 jährt sich zum 70. Mal der Trauertag der Deutschen aus Rußland. An diesem Tag erklärte der Oberste Sowjet der UdSSR alle Deutschen in Rußland allein wegen ihrer Volkszugehörigkeit praktisch zu Staatsfeinden. Doch während der rassisch bedingte Hintergrund dieses Verbrechens auf der Hand liegt, behauptet die russische Führung beharrlich, die Deutschen hätten in Rußland genauso gelitten wie alle anderen Völker und Volksgruppen.

Der Band 41 der ersten Ausgabe der Großen Sowjet-Enzyklopädie, der 1939 erschienen ist, also zwei Jahre vor der Vertreibung der Rußlanddeutschen aus ihren angestammten Siedlungsgebieten, enthält einen Artikel über die ASSR der Wolgadeutschen. Im Artikel werden die Dekrete Katharinas der Großen von 1762/1763 zitiert, mit denen die Deutschen ins Land gerufen, und die Privilegien, wie die Befreiung vom Militärdienst, die ihnen als Anreiz gewährt worden sind. Weil diese Privilegien der Russifizierung im Wege standen, so wird hinzugefügt, hätten sie die Deutschen in den 1880er Jahren verloren. Es heißt weiter, daß sich die (deutsche) Bourgeoisie 39,5 Prozent des Landes unter den Nagel riß (ein kleiner Teil als jener, der später vom Sowjetregime beschlagnahmt worden ist).

Die deutschen Bauern hätten sich jedoch im 18. Jahrhundert am Pugatschow-Aufstand beteiligt und sich auch 1905 gegen den Zarismus erhoben. Kennzeichnend ist die Darstellung der Ereignisse, die unmittelbar vor der Februarrevolution stattgefunden haben. Es heißt wörtlich: „1916 wurde ein Gesetz gegen die deutsche Vorherrschaft erlassen, dessen Geltung sich auch auf die Wolgadeutschen erstreckte. Kurz darauf wurden Vorbereitungen getroffen, alle Deutschen aus dem Wolgagebiet zu vertreiben; als Zeitpunkt dafür war der April 1917 vorgesehen. Der Monarchiesturz verhinderte die Ausführung dieses barbarischen Planes. Als die Kolonisten an die Provisorische Regierung appellierten, das Gesetz zu widerrufen, bewilligte ihnen Kerenski nur einen Aufschub der Durchführung des Dekrets. Erst die Große Sozialistische Oktoberrevolution, die aller nationalen Unterdrückung eine Ende setzte, ...“

In vorderster Front bei der Kollektivierung

In dem Artikel heißt es ferner, im Februar 1917 seien die „Bourgeois und Kulaken (Großbauern)“ des Gebietes an die Macht gekommen und hätten versucht, eine autonome deutsche Provinz zu bilden. Nach der Oktoberrevolution setzte Stalin ein Kommissariat für wolgadeutsche Angelegenheiten ein, und nach Niederwerfung eines antisowjetischen Aufstandes ordnete Lenin am 19. Oktober 1918 die Bildung einer autonomen Verwaltung an. Es wird ferner eine ganze Reihe von Einheiten aufgezählt, die im Bürgerkrieg auf seiten der Roten gekämpft haben. Infolge der Durchführung der „Lenin-Stalinschen Nationalitätenpolitik“ sei das Gebiet zu einer Republik mit blühender sozialistischer Kultur“ geworden.

Ferner werden die Treue und die Erfolge der Wolgadeutschen gepriesen: „Während des ersten und zweiten Fünfjahrplans, in der Periode der sozialistischen Großoffensive gegen kapitalistische Elemente in Stadt und Land, stand die Wolgadeutsche ASSR in vorderster Front bei der Durchführung der Kollektivierung und Mechanisierung der Landwirtschaft. (...) Die weitere Entwicklung der Volkswirtschaft und der Kultur der ASSRdWD, ihr rascher Fortschritt zu einem besseren, noch glücklicheren Leben und zum Kommunismus ist gewährleistet durch die Stalinsche Verfassung, durch die entschlossene Stalinsche Führung des ZK der KPdSU(B) und durch die grenzenlose Treue des werktätigen Volkes der Wolgadeutschen ASSR zur Sache des Kommunismus.“

Die Wolgadeutschen waren demnach die erste Minderheit in der Sowjetunion, die die Autonomie erlangte: Am 19. Oktober 1918 wurde die „Wolgadeutsche Arbeiterkommune“ gegründet und im Januar 1924 die ASSR der Wolgadeutschen ausgerufen. Vieles deutet darauf hin, daß der Kampf gegen die Religion, die große Säuberung und die Kollektivierungskampagne die ASSR der Wolgadeutschen und andere angestammte Siedlungsgebiete der Deutschen in Rußland härter trafen als andere Regionen. Tausende und Abertausende Bürger deutscher Volkszugehörigkeit wurden schon vor dem Zweiten Weltkrieg enteignet, deportiert, verhaftet und erschossen. Ministerpräsident Adam Welsch, der 1936 „nationalistische und andere antisowjetische Elemente“ in Partei und Regierung der Republik „angeprangert“ hatte, wurde 1937 zugleich mit anderen hohen Funktionären der Republik, selber verhaftet.

Nach der Kollektivierung erhielten die wolgadeutschen Kolchosen besonderes Lob. Die englische sowjetische Tageszeitung Moscow News schrieb am 16. Januar 1939: „Diese Menschen zeigen der ganzen Welt, was das fleißige deutsche Volk leisten kann, wenn es vom Joch des Kapitalismus befreit ist.“ Die Wolgadeutsche Republik wurde allgemein als eine Art Schaustück behandelt. Bei den Wahlen am 26. Juni 1938 wurden in der Wolgadeutschen ASSR 99,7 Prozent aller Stimmen für die offiziellen Kandidaten abgegeben.

Die Vertreibung der Wolgadeutschen sowie der Deutschen aus anderen angestammten Gebieten der Rußlanddeutschen (Krim, Kaukasus, Ukraine) war ein Eingeständnis des Versagens der sowjetischen Politik gegenüber nationalen Minderheiten. Darauf läßt allein schon der am 28. August 1941 verabschiedete Erlaß des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR schließen: „Laut verläßlichen Informationen, die den Militärbehörden zugegangen sind, gibt es unter der deutschen Bevölkerung im Wolgagebiet Tausende und Zehntausende Diversanten und Spione, die auf ein Signal aus Deutschland in dem von den Wolgadeutschen bewohnten Gebiet Sabotageakte durchführen sollen. Keiner der Deutschen im Wolgagebiet hat den sowjetischen Behörden die Anwesenheit einer so großen Zahl von Diversanten und Spionen unter den Wolgadeutschen angezeigt; folglich verbirgt die deutsche Bevölkerung des Wolgagebietes in ihrer Mitte Feinde des Sowjetvolkes und der Sowjetmacht.“

Um „unerwünschte Vorgänge dieser Art zu vermeiden und schweres Blutvergießen zu verhindern“, beschloß das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR schließlich, die gesamte wolgadeutsche Bevölkerung in andere Gebiete umzusiedeln. Die „Zusicherung, daß den Umsiedlern Land zugeteilt wird“ und daß sie bei der Niederlassung in anderen Gebieten staatliche Unterstützung erhalten sollten, erwies sich spätestens in den Steppen Kasachstans und Sibiriens als blanker Hohn. Über 400.000 Deutsche allein von der Wolga wurden unter erbärmlichen Bedingungen deportiert und mußten im stalinistischen Gulag-System als Arbeitssklaven schuften. Andere lud man, viele hundert Kilometer von jeglicher Zivilisation entfernt, in den Weiten der kasachischen Steppe aus, wo sie ohne Lebensmittel, Baustoffe oder Heizmaterial auf sich gestellt waren, um den lebensfeindlichen Bedingungen zu trotzen. Wolfgang Leonhard, als Sohn kommunistischer Exildeutscher, die Opfer der stalinistischen „Säuberungen“ wurden, beschreibt die Bedingungen der Rußlanddeutschen in seinem Bestseller „Die Revolution entläßt ihre Kinder“. Als Deutscher 1941 aus Moskau in den Norden Kasachstans zwangsumgesiedelt, findet er das unglaubliche Elend verhungernder Rußlanddeutscher vor, die in notdürftigen Erdhütten inmitten der Steppe hausen. Von den etwa eine Million deportierten Deutschen in Rußland sind schätzungsweise 300.000 diesem Völkermord zum Opfer gefallen.

Der Kultur beraubt und in der Sprache behindert

In einem zweiten Dekret vom 7. September 1941 wurde die Republik der Wolgadeutschen aufgeteilt – fünfzehn Kantone wurden der Region Saratow und sieben der Region Stalingrad zugeschlagen. Mit dieser von langer Hand vorbereiteten „barbarischen“ Maßnahme, die neben der Enteignung, Deportation und Zerstreuung deutscher Volksgruppen die Trennung deutscher Familien und der Mütter von ihren Kindern sowie Zwangsarbeiten für die Frauen ab sechzehn Jahren vorsah, leitete der Kreml den bis heute ungesühnten und unbestraften Genozid an der deutschen Volksgruppe in der Sowjetunion ein. Während der ganzen Sowjetzeit bis in die neunziger Jahre sollten die Rußlanddeutschen, oft ihrer Kultur beraubt und selbst in der Pflege ihrer Sprache behindert, als „Vertriebene im eigenen Land“ leben, gegenüber ihrem sowjetischen Umfeld stets mit dem Makel behaftet, Angehörige des besiegten Feindstaates zu sein.

Heutige Behauptungen russischer Politiker und Massenmedien, „alle Völker“ der ehemaligen Sowjetunion hätten „gelitten“ sind vor diesem Hintergrund als Zynismus anzusehen.

Fotos: Lagerhaus in Astrachan um 1928, Kinder in Wolgadeutscher ASSR, Maisernte bei Schwarzmeerdeutschen, Rußlanddeutsche fliehen 1929 ins Reich, Spätaussiedler in Flensburg: Vertriebene im eigenen Land

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