© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  35/11 / 26. August 2011

Was kommt nach dem Kapitalismus?
Schwanken als Prinzip
Wolfgang Ockenfels

Von sozialer Marktwirtschaft im ursprünglich subsidiären Sinne ist kaum mehr die Rede. Ihre Entstehungsgeschichte, ihre normativen Voraussetzungen, ihr ordnungspolitisches Programm sind sogar in den Wirtschaftswissenschaften so gut wie vergessen. Aber auch die alternativen Begriffe „Kapitalismus“ und „Sozialismus“ scheinen einstweilen ausgedient zu haben. Jedenfalls sind sie kaum mehr geeignet, die politisch-ökonomische Wirklichkeit abzubilden oder normativ zu erfassen. Wirtschaftsordnungen sind inzwischen so komplex und variabel, daß sie sich sogar der Chaos-Forschung als Gegenstand entziehen.

In der gegenwärtigen Konfusion von Begriffen und Ordnungen erscheinen Staatskapitalismus und Liberalsozialismus inzwischen fast als austauschbare Größen. Im Kuddelmuddel täglich neuer Probleme und konkurrierender Ansprüche torkeln die Parteipolitiker populistisch mal nach links, mal nach rechts, wobei auch die Links-rechts-Unterscheidung nichts Eindeutiges mehr hat. Das Schwanken ist zum Prinzip geworden. Und die christlich überlieferte Moral der Zehn Gebote verflüchtigt sich immer mehr.

Mir scheint, der Kapitalismus überlebt nicht als ein geschlossenes System, als eine festgefügte Ordnung. Er ist eher das Fehlen einer verbindlichen Ordnung und repräsentiert das moralische und rechtliche Systemdefizit. In dieser unbestimmten Offenheit ist er anfällig für jede Art von individueller Willkür und ideologischer Beliebigkeit. Offen sogar für seinen eigenen Untergang. Darin ist er sehr modern, geradezu postmodern. Wenn er aber den Gipfel seiner öffentlichen und privaten Bedeutsamkeit erreicht hat, sackt er in sich zusammen und offenbart sich als ein schäumendes Nichts.

Ob Sozialist oder Kapitalist, beide Typen kamen und kommen ohne Staatsverschuldung nicht zu Rande, wenn sie Investitionen für eine „gedeihliche Zukunft“, ob durch militärische Aufrüstung oder Industriepolitik, tätigen. Dafür gibt es ja schließlich private Banken und das staatliche Geldmonopol. Mit denen läßt sich prächtig „Zukunft gestalten“. Wenn man nur wüßte, wie diese Zukunft aussehen sollte. Und wie sie tatsächlich aussehen wird, wenn man so weitermacht.

Erst mußte die Finanzwirtschaft gerettet werden, jetzt geht es wieder mal um Wachstumsbeschleunigung. Alles auf Pump und alles durch den Staat. Dabei hatten uns schon unsere Eltern vor zu großer Verschuldung gewarnt, und auf den „Vater Staat“ zu vertrauen, lag ihnen fern. Sie hatten ja ihre Erfahrungen gemacht im letzten Jahrhundert: mit zwei Staatsbankrotten und entsprechenden Inflationen.

Der vater- und mutterlosen, mithin auch kinderlosen Gesellschaft der Gegenwart fehlen diese Erfahrungen. Eine aussterbende Gesellschaft macht gerne Schulden. Und Kinder, die nicht mehr geboren werden, müssen die Schulden nicht mehr begleichen. Nur die wenigen jungen Leute, die wir noch aufzubieten und nach Strich und Faden verwöhnt haben, spüren, daß da was auf sie zukommt. Sie ahnen, daß die Verheißungen ständigen Wachstums brüchig sind, und daß sich der Staat einmal bei ihnen das zurückholen muß, wovon wir in den letzten Jahrzehnten wirtschafts- und sozialpolitisch gezehrt haben.

Trübe Aussichten also, die durch forcierten Optimismus überspielt werden müssen. Dabei ist längst klar, daß sich die Wachstumsprognosen nicht in Europa, sondern in östlichen und südlichen Erdteilen erfüllen werden. Das mag man, aus weltweiter und weltkirchlicher Perspektive betrachtet, sogar als Erfüllung einer globalen Leistungsgerechtigkeit werten. Schließlich sind „die Chinesen auch Menschen“, wie ein rheinisch-katholischer Unternehmer sich auszudrücken pflegte.

Der Kapitalismus überlebt nicht als ein geschlossenes System, als eine festgefügte Ordnung. Er ist eher das Fehlen einer verbindlichen Ordnung und repräsentiert das moralische Systemdefizit. Anfällig für jede Art von Willkür und ideologischer Beliebigkeit.

Einige Schlaumeier im wissenschaftlichen oder politischen Gewand meinen inzwischen, sich des Schuldenwachstums durch verstärkte Inflation entziehen zu können. Das wäre doch ein bequemer Weg, sich der hohen Staatsverschuldung zu entledigen. Eine Inflationierung des Geldes läuft jedoch auf eine ungerechte Enteignung sparsamer Bürger und Gläubiger hinaus. Also auf staatlichen Diebstahl. Schon Joseph Kardinal Höffner, der berühmte Sozialethiker und Erzbischof von Köln, wies darauf hin, daß Schulden etwas mit moralischer Schuld zu tun haben können.

Die schuldenfinanzierte staatliche Wirtschafts- und Sozialpolitik ist ein Unding, an dem sich christliche Sozialethiker nicht länger beteiligen sollten. Mit Mühe und Not bedient der staatliche Kapitalismus die Zinsen für seine expliziten Kredite, die inzwischen an die zwei Billionen Euro erreicht haben. Aber keiner sollte sein Credo daran verschwenden zu glauben, daß die impliziten Staatsschulden (einschließlich der Forderungen von Renten und Pensionen) jemals getilgt werden könnten. Über die staatlich verlautbarte Rentengarantie werden die in zwanzig Jahren zur Herrschaft gelangten Schrumpfgermanen nur lachen: Keine Kinder, keine Rente.

Immer noch, Gott sei Dank, unterscheidet sich das persönlich verantwortliche „bürgerliche“ Verhalten von dem des öffentlichen Zugriffs auf eine Zukunft, für die kein demokratischer Politiker persönlich haften will. Aber es gibt ihn noch, den treusorgenden Familienvater und verantwortlichen Eigentumsunternehmer, der in fetten Zeiten vorsorgt, um in mageren wenigstens überleben zu können, ohne von staatlichen Hilfen abhängig zu sein.

Zugegeben: eine aussterbende Gattung, die sich nicht durch finanzielle Anreize des Staates korrumpieren läßt. Vielen Privatkapitalisten, die sich in ihrer Konsum- und Expansionsgier nicht zügeln können, weil sie ihre Schulden nicht „bedienen“ können, droht der Offenbarungseid, der unserem Staat einstweilen (wie lange noch?) erspart bleibt.

Diese Drohung wirkt leider nicht mehr auf die Inhaber der Staatsgewalt, egal wie sie sich parteipolitisch zusammensetzt. Es soll Zeiten unter Konrad Adenauer gegeben haben, in denen der Staat wie ein guter Hausvater Vorräte für magere Zeiten ansammelte. Fritz Schäffers „Juliusturm“ ragt aus einer versunkenen Welt hervor und ist nun bei Wikipedia als symbolisches Relikt zu bestaunen. Hier erfährt man ganz nebenbei, daß die acht Milliarden Mark, die der Finanzminister Schäffer damals ansparte, „nach heutigem Wert“ zirka 35 Milliarden Euro ausmachen. Der Zusammenhang von Wertewandel und Inflation, von geistig-moralischen und finanziellen Werten, bedarf einer Klärung, soviel ist wenigstens sicher.

Seit Helmut Schmidt, dem immer noch unermüdlichen Weltökonom, gehört die Schuldenmacherei zur deutschen Staatsräson. Sie erinnert an das „deficit spending“ des John Maynard Keynes’, auf den sich heute immer noch, aber mißbräuchlich, die politisch-ökonomischen Wunderheiler berufen, wenn sie ihr schuldenfinanziertes Wachstum betreiben. Jetzt mehren sich die Zweifel, ob permanentes Wirtschaftswachstum notwendig zur Marktwirtschaft vulgo Kapitalismus gehört – und ob es ausgerechnet der Staat zu garantieren habe. Der Staat verdirbt die guten Sitten seiner Bürger.

Auf der nach oben offenen Krisenskala ist noch viel Platz. Die europäischen Regierungen tun mit ihren Rettungsaktionen inzwischen alles, was eine apokalyptische Zuspitzung abwenden soll. Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Realist ist heute, wer sich nicht auf den Staat verläßt, sondern sich rechtzeitig selber absichert.

Es gibt kein Naturrecht, keinen Anspruch auf ewiges Wachstum in einem paradiesischen Wohlfahrtsstaat. Die Ludwig Erhardsche Verheißung „Wohlstand für alle“ setzte noch die Geltung von Werten und Tugenden voraus, die heute bei uns kaum noch im Umlauf sind.

Die schönen Wahlversprechen sind verblaßt, wer sich auf sie einließ, hat sich zum Narren gemacht. Die Verheißungen besserer Zeiten sind verglüht. Wer sich auf ständiges Wirtschaftswachstum einstellte, blamiert sich als betrogener Betrüger. Skeptiker erweisen sich als die eigentlichen Realisten und sagen: So kann es nicht weitergehen. Aber wie soll es weitergehen? Und wohin?

Das sind schwierige, geradezu geschichtsphilosophische Fragen. Wohin führt die Entwicklung, in welche „Werte“ sollen wir jetzt „einsteigen“? Sichere Antworten darauf kann auch die katholische Soziallehre nicht erteilen, jedenfalls nicht im Sinne der Effizienzsteigerung. Sie ist ohnehin nicht dazu da, ökonomische Erfolgsaussichten zu verheißen. Höchstens kann man aus ihr ableiten, wie in kritischen Situationen generell zu verfahren ist.

Die Situation ist inzwischen aber so verfahren, daß man nur mit großen Schwierigkeiten die klassischen sozialethischen Prinzipien anwenden kann. Wenigstens hat sich herumgesprochen, daß man die wachsenden Probleme nicht mit wachsenden Schulden lösen, das heißt auf die lange Bank der Zukunft schieben kann.

Nun „sparen“ die Regierungen, wo sie einsparen können. Zwar halbherzig, aber sie versuchen es. Populär ist das nicht, denn sie treten dabei vielen Transfer- und Subventionsempfängern auf die Füße. Und die sind dabei, zur Mehrheit der Wahlbevölkerung zu werden. Kein Wunder, daß es vor allem jene trifft, die kein lautstarkes Protestpotential aufbieten können, also kinderreiche Familien und Arbeitslose.

Ist das etwa ungerecht? Im Falle der Familien, die die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft zu sichern haben, kann man diese Frage bejahen. Die Familienarbeit wird hierzulande weder gewürdigt noch hinreichend prämiert. Sozial gerecht, so hieß es einmal, ist das, was Arbeit schafft. Diese Parole war sehr egoistisch auf die Gegenwart bezogen. Jetzt müßte es heißen: Gerecht ist, was Arbeit nicht auf Kosten der Zukunft ermöglicht. Also nicht auf Kosten der Familien, das heißt: der Kinder. Es bleibt dabei: Wohlstand ist nur durch Arbeit, nicht durch Schuldenmacherei und Spekulation zu schaffen.

Es gibt kein Naturrecht, keinen nationalen Anspruch auf ewiges Wachstum in einem paradiesischen Wohlfahrtsstaat. Die Ludwig Erhardsche Verheißung „Wohlstand für alle“ setzte noch die Geltung von Werten und Tugenden („Maßhalten“) voraus, die heute bei uns kaum noch im Umlauf sind. So könnte die Wohlstandsverheißung jetzt auch mal in anderen, bisher darbenden Erdteilen in Erfüllung gehen. Ist das etwa ungerecht? Geht es unter dem Aspekt der Leistungsgerechtigkeit mit rechten Dingen zu, wenn vormalige Hungerleider nun in den Wohlstand aufrücken und „uns“ überflügeln?

Anscheinend wirtschaften die alten Industrienationen zunehmend ab – und neue Wettbewerber betreten die Weltwirtschaftsbühne. Hier wird unsere Aufmerksamkeit auf eine globale Wirtschaftsordnung gelenkt, die eine universale Geltung beanspruchen kann. Soll das der notorisch krisenanfällige „Kapitalismus“ sein? Schön wäre es ja, wenn es eine ethisch akzentuierte soziale Marktwirtschaft im Weltmaßstab geben könnte, für die Benedikt XVI. plädiert. Aber dazu müßten wir sie erst einmal bei uns neu entdecken. Einschließlich einer Politik, die auch das Migrations- und Integrationsproblem zu lösen sucht.

 

Prof. Dr. Wolfgang Ockenfels, Jahrgang 1947, ist Professor für Christliche Sozialwissenschaften an der Theologischen Fakultät Trier. Der Dominikanerpater ist Chefredakteur der Zeitschrift Die neue Ordnung und Mitglied der Ludwig-Erhard-Stiftung.

 

Wirtschafts-, Finanz- und Währungskrisen – Krise folgt auf Krise: Das kapitalistische Wirtschaftssystem wird in der Globalisierung von schweren Schockwellen erschüttert. In loser Serie gehen JF-Autoren der Frage nach, was nach dem Kapitalismus kommt.

Wolfgang Ockenfels: Was kommt nach dem Kapitalismus?, Sankt Ulrich Verlag, Augsburg 2011, gebunden, 176 Seiten, 16,95 Euro. Auszüge aus dem Buch werden hier mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag abgedruckt.

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