© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  35/11 / 26. August 2011

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weissmann

Zu den interessantesten Kommentaren über die Ausschreitungen in England gehören die von Gina Thomas. Bis dahin hatten sich ihre Deutungen des Gesellschafts- und Kulturlebens auf der Insel immer im Bereich des mainstream gehalten. Jetzt liest man überrascht, daß sie die Angst vor linksliberaler Medienschelte als Hauptgrund für das Versagen der Polizeiführung betrachtet und der Meinung ist, daß das soziale Gefüge unter den Bedingungen der alten, noch ständisch geprägten Ordnung zwar auf Ungleichheit beruhte, aber im wesentlichen stabil war und vor allem die notwendige Sicherheit verbürgte. Wieder ein Beispiel für das alt-angelsächsische Weistum, wonach Konservative Liberale sind, die schon einmal zusammengeschlagen wurden.

˜

Stand man eben noch staunend vor dem Marketing-Rätsel, daß ein Edelwodka wie Grey Goose jedes moderne Werbemätzchen spart, seine Produktion in der Nähe von Cognac bestens versteckt und sich Besuche genauso verbittet wie Chateau Pétrus, da fällt der Blick auf das Spirituosenregal im Supermarkt und man erkennt – verstimmt – die hohe, schlanke Flasche neben den plebejischen anderen.

˜

Unterhaltung mit einem Geistlichen, der den Weinberg des Herrn im ehemaligen Zonenrandgebiet Ost bestellt: karger Boden, sehr karger Boden. Aber was erwartet man, angesichts von drei materialistischen Regimen in Folge?

˜

Wahrheit bedeutet Verantwortung, daher die allgemeine Nachsicht für die Lüge.

˜

Das Überangebot an Hotelzimmern zu bestimmten Zeiten und die Maßnahme, die Belegung dadurch zu sichern, daß man alle möglichen Sondertarife anbietet, hat den unschönen Nebeneffekt, daß gute Häuser sich mit Menschen füllen, die dort nichts zu suchen haben, und die von ihren Gewohnheiten auch im neuen Milieu kaum lassen wollen, also etwa in Trainingshose, Shorts, mit Flip-Flops zum Frühstück erscheinen. Plötzlich, in der unerfreulichen Masse, eine alte Dame, Japanerin, im lichtgrauen Kimono, die sich mit kleinen Schritten einen Weg zu ihrem Tisch bahnt. Ein Moment lang Schweigen im Speisesaal, dann kehrt der geschäftige Lärm zurück.

˜

Neben mir telefoniert jemand in deutsch-türkischem Kauderwelsch, gegenüber unterhalten sich zwei Frauen offenbar auf polnisch, zwei junge Männer gehen vorbei und sprechen irgendein asiatisches Idiom, als die Türen sich öffnen, schallt dröhnend amerikanische Popmusik herein. Das geschieht alles auf wenigen Quadratmetern eines Berliner S-Bahn-Waggons und ist wohl der Preis, den man fürs Weltstädtische zahlen muß. Aber es ist auch eine Reminiszenz an den biblischen Mythos von der ersten Weltstadt Babylon. Die Erzählung über Turmbau und Sprachverwirrung und Völkerzerstreuung sollte man nicht nur als Ursprungsgeschichte lesen, sondern auch als elementaren Hinweis darauf, daß wir keine Heimat haben, wo keine Verständigung möglich ist. Das ist mehr als ein technisches Problem, das Unbehagen hat tiefere, nicht zuletzt ästhetische Gründe und macht uns feindselig.

˜

Bildungsbericht in loser Folge XII: „Der Lehrer steht also heute ohne Leitbild dem Schüler gegenüber, er muß auf eigene Verantwortung wagen, den jungen Menschen dahin und dorthin einzuformen. (…) Mit der Autoritätslosigkeit der Lehrer und dem Rowdytum der Jugendlichen hängt eine Erscheinung zusammen, die ich das antipädagogische Komplicentum von Kind und Elternhaus nennen will. Kaum eine Mutter ist noch geneigt, eine schlechte Zensur anzuerkennen: Der Junge ist reines Gold, zu Hause kann er alles, der Lehrer mag ihn aber nicht leiden und gibt ihm darum einen Sechser. Wenn ich an den Unsinn denke, der in Elternversammlungen vorgetragen wird, so sehe ich voraus, daß demnächst das Elternhaus den Lehrer bei einer schlechten Zensur wegen Beleidigung verklagen wird (…) Seit Jahrzehnten geht das Leistungsniveau zurück. Das Wissen des Oberprimaners von heute entspricht dem des Obertertianers meines Jahrgangs, dagegen tragen 16jährige das Selbstbewußtsein reifer Männer zur Schau, und sind sehr forsch bei der Hand, Urteile zu fällen und Meinungen abzugeben. Die kostbare Individualität wird gehätschelt, sie darf nicht verbogen oder angestrengt werden – nicht nur die Erziehung, auch die Lehre ist weich geworden. Verheerung richtet, vor allem in Amerika, der ruchlose Optimismus der Psychoanalyse an, als die unserer Zeit zugeordnete Form des Rousseauismus: Wachsen lassen, sich runden lassen, keine Härte, keine Strafen, keine Mühen, der Mensch ist gut, wenn er sich ungehindert auslebt – nur durch Härte entstehen Traumata und Komplexe, laßt uns die Härte vermeiden, laßt uns unsere Kinder weich anfassen – wir wollen ihnen alles erlauben und nichts verbieten, dann können wir sicher sein, daß volle und gute Menschen aus ihnen werden.“ Gerhard Nebel, Schriftsteller, Studienrat i. R., 1956.

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 9. September in der JF-Ausgabe 37/11.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen