© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  35/11 / 26. August 2011

CD: H. W. Henze
Restaurativer Grundzug
Sebastian Hennig

Der Tonsetzer Hans Werner Henze, Jahrgang 1926, ist kein wurzelloser Postmodernist. Sowohl im künstlerischen Ausdruck als auch persönlich durch seinen Lehrer Wolfgang Fortner ist er in die lebendige Traditionslinie der europäischen Musik eingebunden. Fortner weigerte sich noch 1946, seinem Schüler die Grundlagen der Zwölftontechnik zu vermitteln, die er für „erledigt“ hielt.

Henze holte die Genese der modernen Musik in seinem Frühwerk nach. Die 3. Sinfonie (1950) beginnt mit der „Anrufung Apolls“. Nach einer behutsamen Annäherung reißt wie ein Vorhang vor dem Heiligen eine festliche Tonfolge auf. Die leuchtende Fanfare wechselt mit desorganisierter Umschleichung des Erhabenen. In der folgenden „Dithyrambe“ bricht eine klirrende, rasende Begeisterung hervor und geht zuletzt in den „Beschwörungstanz“ über.

Bald danach verlegte Henze seinen Wohnsitz nach Italien, um den verkorksten ästhetischen Debatten und der doktrinären Vorherrschaft der seriellen Produktion in seiner Heimat zu entgehen: „Eigentlich entfloh ich nicht so sehr dem restaurativen Deutschland wie der deutschen Musikavantgarde.“ Die Oper „König Hirsch“ nach dem Drama des Carlo Gozzi war sein erstes Werk in der neuen Wahlheimat.

Nachdem die „deutsche Musik-avantgarde“ ihm dieses Ergebnis seiner „italienischen Erfahrung“ für die Uraufführung verstümmelt hatte, schuf er aus den Trümmern der gekürzten Fassung des „Il Re Cervo“ die einsätzige 4. Sinfonie für großes Orchester. Diese Musik enthält ein mythisches Gespräch des verwandelten Königs, der vor den Intrigen und Verfolgungen in den Wald geflohen ist, mit der umgebenden Natur. Die Selbstbesinnung mündet in der Entscheidung, zu den Menschen zurückzukehren. Diese Spannung zwischen geistiger Verantwortung und gesellschaftlicher Teilhabe eignet auch Henzes künstlerischer Biographie. Ein melancholischer, ästhetisch-restaurativer Grundzug ist über seine Musik gebreitet.

Die 5. Sinfonie für großes Orchester wurde 1962 abgeschlossen, und Henze feiert darin gleichsam in einer Art Gegenstück zur farbenprächtigen Rom-Trilogie eines Respighi das ruppige Rom jener Jahre: „tokkatenartige Großstadtbewegung, (…) es könnte auch New York sein, physische Energie, Tanz, hektisch und roh“. Der Widmungsträger Leonard Bernstein dirigierte die Uraufführung zur Eröffnung des Lincoln Center in New York. Wie die zerstiebenden Wolkenfetzen einer vergangenen Wirklichkeit durchziehen den zweiten Adagio-Satz zartere Melodien. Im dritten Satz „moto perpetuo“ will das antreibende ungerichtete Gestampfe dann keinen anderen Ton mehr neben sich dulden. Während Arthur Honeggers „Pacific 231“ von 1924 fast noch romantisch den Aufbruch einer modernen Eisenbahnlokomotive feiert, ist unterdessen die Bewegung zum ratlosen gespenstischen Leerlauf verkommen: ein nervöser Lärm, der nicht Ausdruck der Lebenskraft, sondern eines zwanghaften Vergessenwollens ist.

Unter der präzisen Leitung von Marek Janowski, der einen weiten musikalischen Horizont ausspannt, entfaltet das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin die Sinfonien als das Vermächtnis eines Klassikers, der Hindemith, Honegger und Strawinsky nähersteht als den Schaumkronen zeitgenössischer Musikwellen.

Hans Werner Henze: Sinfonien 3–5, Wergo 2011, www.wergo.de

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