© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  35/11 / 26. August 2011

Die Krise steht erst noch bevor
Großbritannien: Kritik an harten Urteilen gegen Randalierer und Plünderer / Ex-Premier Tony Blair kritisiert Cameron: Er bringt das Land in Verruf
Derek Turner

Nach den schlimmsten Unruhen, die das Land seit Jahrzehnten erlebt hat, ist in England noch längst keine Ruhe eingekehrt. Im Gegenteil. Die politische Klasse rätselt über die Ursachen, und die Gerichte sind überlastet. Ein böses Erwachen für eine Gesellschaft, die derart stolz auf ihre innere Stabilität war.

Die Bilanz ist ernüchternd. Dreitausend Personen wurden bislang festgenommen. Die Anklagen reichen von Anstiftung zu kriminellen Handlungen bis Mord. In den Amtsgerichten der betroffenen Städte finden rund um die Uhr Verhandlungen statt, um die Verhaftungswelle abzuarbeiten, und in vielen Fällen wurden bereits ungewohnt harte Strafen verhängt. Aktuellen Zahlen zufolge ist die Anzahl der Gefängnisinsassen landesweit um 100 pro Tag gestiegen und erreichte ein Rekordniveau von 86.654. Die Quote der in Untersuchungshaft genommenen Randalierer liegt somit sechsmal höher als bei Ordnungswidrigkeiten üblich. Viele von ihnen sind nie zuvor straffällig geworden. Unter anderem wurden zwei Männer aus Cheshire zu jeweils vierjährigen Haftstrafen verurteilt, weil sie versucht hatten, via Facebook, Krawalle in ihrer Stadt anzustiften – vergeblich, in Cheshire blieb es still.

Berichten des Guardian zufolge werden Randalierer zu Haftstrafen verurteilt, die um durchschnittlich 25 Prozent höher sind als normal. Zudem landeten siebzig Prozent aller vor Amtsgerichten verurteilten Täter im Gefängnis – gewöhnlich sind es ganze zwei Prozent.

Es mag sein, daß die Howard League für Strafrechtsreform mit ihrer Einschätzung zum Schluß damit recht behält, es habe „manches schlimme Fehlurteil“ gegeben, das in der Berufungsverhandlung aufgehoben werden wird. Dennoch können die Randalierer kaum auf Verständnis seitens einer Bevölkerung hoffen, die die Ereignisse absolut schändlich findet und für die Zukunft noch Schlimmeres befürchtet – immerhin waren 75 Prozent der Randalierer unter 25.

Entsprechend veröffentlichte die Sun die Ergebnisse einer Umfrage, der zufolge ein Drittel der Befragten der Meinung war, gegen die Unruhestifter hätte scharfe Munition eingesetzt werden sollen.

Demgegenüber wirkte Premierminister David Camerons anfängliche Polizistenschelte, wonach die Polizei weder hart genug noch rechtzeitig durchgegriffen hätte, reichlich deplaziert. Sie förderte nur das bereits frostige Verhältnis zwischen Politikern und den unter den Zwängen der politischen Korrektheit und 20prozentigen Haushaltskürzungen leidenden Polizeibeamten.

Auch Camerons wegweisende Rede über das „kranke“ und „kaputte“ Großbritannien stieß nicht nur auf Gegenliebe. Die Unruhen seien keinesfalls auf einen „moralischen Verfall“ zurückzuführen, erklärte Camerons Amtsvorgänger Tony Blair (Labour) im Observer. Dies harte Urteil sei kontraproduktiv, entmutige die Menschen und bringe das Land in Verruf.

Doch mit dieser Einschätzung steht Blair allein auf weiter Flur. Denn selbst von manchen Linken waren Forderungen nach Streichung von Sozialleistungen für Randalierer und deren Rausschmiß aus Sozialwohnungen zu vernehmen. Die Verwirrung ist groß und wurde dann Mitte vergangener Woche von Arbeitsminister Iain Duncan Smith ohne viel Schnörkel auf den Punkt gebracht: „Es war keine Krise, sondern die Krise steht uns erst noch bevor.“

Derek Turner ist Herausgeber der britischen Zeitschrift „The Quarterly Review“. www.quarterly-review.org

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