© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  34/11 / 19. August 2011

Harter Weg durchs Tal der Tränen
Rußland: In den 20 Jahre seit dem Augustputsch 1991 ist das Land durch ein Wechselbad der Gefühle gegangen
Thomas Fasbender

Der Coup gegen den Präsidenten der UdSSR, Michail Gorbatschow, den acht sowjetische Hardliner am 18. August 1991 anzettelten, war zum Scheitern verurteilt, bevor er noch begonnen hatte. Sechzig Stunden lang herrschte die Junta der ratlosen Männer, denen niemand mehr gehorchen wollte. Die Elitetruppen verweigerten den Schießbefehl. Nach sieben Jahrzehnten Kommunismus hatte die alte Ordnung nichts mehr im Angebot.

Die Jungen, unter Breschnew geboren, waren aufgewachsen im Stumpfsinn der Stagnation. Die Perestroika hatte die Ahnung geweckt, daß anderes möglich war. Es ging um elementare Freiheit; auch der Begriff Demokratie besaß seine Unschuld noch. Die Idee des Kommunismus war verdampft. An seine Stelle trat ein Vakuum, in dem jeder ums Überleben rang.

Wer im Frühjahr 1992 nach Moskau kam, erlebte kein Volk im Neubeginn. Die Intelligenzija spürte als erste den Preis. Der kommunistische Staat hatte sie alimentiert und durchgefüttert – das alles war Vergangenheit. Die besten Startchancen besaßen noch die Mafiabanden, deren Wurzeln bis in die 1970er Jahre reichten.

Die neue Regierung unter dem Premierminister Gaidar, von ihren Gegnern als Jungs in kurzen Hosen verhöhnt, suchte ihr Heil in der Schocktherapie. Seit Januar 1992 waren die Preise frei und die Regale gefüllt, doch die Inflation stieg im selben Jahr auf schwindelerregende 2.500 Prozent. Renten und Spareinlagen waren wertlos, Löhne wurden monatelang nicht gezahlt, Lieferungen zwischen Unternehmen im Tauschhandel beglichen.

Die Privatisierung, die im Jahr 1992 einsetzte und Teil der Schocktherapie war, traf auf eine bereits verarmte Masse. Ihr Mechanismus favorisierte die Nomenklatura, die Fabrikdirektoren und die Karrieristen aus dem Komsomol. Das Volk wurde mit anonymen Anteilsscheinen abgespeist. Smarte junge Broker standen vor den Metrostationen und boten einen halben Liter Wodka für das bedruckte Papier – im Auftrag künftiger Oligarchen.

Die Politik gebar Freiheit und Orientierungslosigkeit

Die Jahre waren geprägt von den Wirren der neuen Zeit, vom ersten Tschetschenienkrieg und von der Auseinandersetzung mit den immer noch starken Kommunisten. Hatten 1988 noch weniger als zwei Prozent der Sowjetbürger unter der Armutsgrenze gelebt, so war es 1993 fast die Hälfte.

Kein Wunder, daß der Held des Augustputsches, Boris Jelzin, wenige Monate vor seiner Wiederwahl zum Präsidenten 1996 nur einstellige Umfragewerte einfuhr. Die Wahlen wurden zum Prototyp der „gelenkten Demokratie“; der Westen schaute durch die Finger, Hauptsache „sein“ Kandidat gewann.

Nicht anders war es während der Verfassungskrise 1993 gewesen, als Jelzin das widerspenstige Parlament mit Panzergranaten sturmreif schießen ließ. Die demokratischen Institutionen sind im postkommunistischen Rußland den Zwecken untergeordnet – auch denen des Westens.

Angewiesen auf die Ressourcen des „Big Business“, ohne die seine zweite Präsidentschaft nie möglich gewesen wäre, opferte Jelzin das Tafelsilber. Im Rahmen der „Loans-for-Shares“-Auktionen Ende 1995 privatisierte der Kreml die wichtigsten Rohstoffbetriebe zu lächerlichen Preisen. Im Gegenzug betrieben die Käufer, Michail Chodorkowski und andere, Jelzins Wiederwahl.

Während das Bruttosozialprodukt auf die Hälfte sank und das Volk darbte, entstand eine Gruppe von Milliardären, die sich Fernsehkanäle und Zeitungen zulegten, Politiker und Parlamentarier kauften und unter dem Deckmantel von Demokratie und Pressefreiheit auf schamloseste Weise gegeneinander oder gemeinsam gegen den Staat Privatpolitik betrieben. In jenen Jahren entstand im Volksmund das immer noch oft zu hörende Schimpfwort „Dermokratie“ – das russische Wort „Dermo“ für die menschlichen Exkremente sagt alles.

Als schließlich die asiatische Finanzkrise Ende der 1990er Jahre den Ölpreis auf zwölf Dollar je Barrel drückte, brach dem Staat das Genick. Im Frühherbst 1998 verlor der Rubel zwei Drittel seines Wertes. Abertausende Unternehmen verschwanden im Konkurs, für viele war es die zweite Stunde Null in weniger als einem Jahrzehnt.

Am Ende waren die Menschen schlicht müde geworden. Die Zeit hatte Freiheit gebracht und Orientierungslosigkeit, tausend Blumen und den völligen Verlust jeder Sicherheit, und das neue Jahrtausend wuchs am Horizont wie ein großes, schwarzes Loch.

In dieser Situation erschien der seinerzeit völlig unbekannte Herr der Nullerjahre, Wladimir Putin, auf der politischen Bühne. Ein Deus ex machina mit stechendem Blick. Bis heute verkörpert sein schneidiges Charisma in den Augen vieler Russen etwas, das sie deutsch nennen: die beherrschte Distanz, mit der er seinen Landsleuten, die sich so gerne gehenlassen, kaum daß die Lage es erlaubt, disziplinierend entgegentritt.

Putin setzt auf Patriotismus und autoritäre Konzepte

Ohne großes Federlesen begab der Neue sich ans Aufräumen. Nach einem Jahr war die „Familie“, die engste Entourage seines Vorgängers, entthront. Der unselige Boris Beresowski, dem Putin sein neues Amt zum Teil verdankte, verschwand in der Londoner Emigration. Die Oligarchen verloren Zeitungen und Fernsehkanäle, der Staat weitete seinen Einfluß auf die strategischen Industrien aus, ergänzte sie um Rückkäufe von eingeschüchterten Eigentümern oder kassierte, wie im Fall von Jukos, die Aktiva auf dem Wege kalter, mit einem dünnen Mäntelchen der Legalität behangener Enteignung. Mit Michail Chodorkowskis Verhaftung im Oktober 2003 war die Oligarchenmacht am Ende.

Der nachhaltig steigende Ölpreis und eine auf Wachstum und fiskalische Disziplin fokussierte Wirtschaftspolitik brachten die volkswirtschaftliche Wertschöpfung wieder auf das Niveau von vor 1990. Die verarbeitende Industrie wuchs um drei Viertel, die jährlichen Investitionen um mehr als das Doppelte, und Rußland entwickelte sich zur weltweit sechstgrößten Wirtschaftsmacht. Mit Hilfe einer „Flat tax“ von dreizehn Prozent wurden die Steuereinnahmen stabilisiert, und die Auslandsschulden, die 1999 noch bei fast 150 Prozent des Bruttosozialprodukts lagen, waren 2005 komplett getilgt.

Selbstbewußt formte der Kreml die Erfolge in regionale Großmachtansprüche um, betrieb aktive Integration in Asien und goutierte die punktuellen Konflikte mit dem Westen, zuletzt im Kaukasus im Sommer 2008.

Innenpolitisch war die Putin-Präsidentschaft von Patriotismus und den autoritär geprägten Konzepten „Vertikale der Macht“ und „Souveräne Demokratie“ geprägt. 2005 wurden die Direktwahlen der Gouverneure abgeschafft, parallel die Massenmedien einer stärkeren Kontrolle unterworfen. Beides hat den administrativen Durchgriff gefördert, aber auch Durchstechereien, Katzbuckelei und Machtmißbrauch. Bei aller wachsenden Skepsis, zumal der jungen Mittelschicht, sieht die weit überwiegende Mehrheit in diesem Kurs weiterhin eine legitime Alternative zu westlichen Modellen partizipativer Demokratie.

Seit das Tandem aus Medwedjew und Putin die Zügel in der Hand hält, bahnt sich der nächste Epochenwechsel an. Die ungelösten Probleme sind gewaltig: eine weithin verrottende Infrastruktur, das Urübel Korruption, die Lage im Nordkaukasus und die überbordende, unter Putin noch einmal aufgeblasene Bürokratie. Dringend erforderliche Strukturreformen beim Militär und den Rechtsschutzorganen stehen an.

 

Eine Chronik

11. März 1990 – Litauen erklärt als erste Sowjetrepublik seine Unabhängigkeit. Weitere Republiken folgen.

14. März 1990 – Der Generalsekretär der KPdSU, Michail Gorbatschow wird zum Präsidenten der Sowjetunion gewählt.

13. Januar 1991 – Vilniusser Blutsonntag: Sowjetische Truppen versuchen erfolglos, die Unabhängigkeitsbewegung zu stoppen.

11. Juni 1990 – Gorbatschow versucht mit einem neuen Unionsvertrag, die auseinanderbrechende Sowjetunion zu retten.

12. Juni 1991 – Boris Jelzin wird zum Präsidenten der russischen Teilrepublik (RSFSR) gewählt.

 

Augustputsch

18./19. August 1991 – Vizepräsident Gennadi Janajew verhängt den Ausnahmezustand. Gorbatschow wird unter Hausarrest gestellt. Ein achtköpfiges Notstandskomitee übernimmt die Macht. Putschgegner stoppen vor dem Parlament anrückende Truppen. Auf einem Panzer stehend, ruft Jelzin erfolgreich zum Widerstand gegen die Putschisten und zum Generalstreik auf.

20. August 1991 – Jelzin übernimmt die Kommandogewalt über alle Truppen auf dem Territorium der Russischen Republik.

21. August 1991 – Verteidigungsminister Dmitri Jasow, Mitglied im Notstandskomittee, ordnet den Rückzug der Truppen an. Die Putschisten werden verhaftet.

 

1. November 1991 – Der Volkskongreß billigt radikale Marktwirtschaftsreformen.

6. November 1991 – Jelzin verbietet die KPdSU und die Russische Kommunistische Partei.

25. Dezember 1991 – Rücktritt Gorbatschows vom Amt des sowjetischen Staatspräsidenten.

26. Dezember 1991 – Offizielles Ende der Sowjetunion. Jelzin wird erster Präsident Rußlands.

1992 – Hyperinflation

1. Dezember 1994 – Beginn des Erster Tschetschenienkrieges.

Ende 1995 – Beginn der Oligarchenmacht.

Juni/Juli 1996 – Jelzin kann sich bei der Präsidentenwahl knapp gegenüber Kommunistenchef Gennadi Sjuganow durchsetzen.

1998/1999 – Rubelkrise, Börsenkrach, Auslandsschulden in Höhe von 146 Prozent des Bruttosozialprodukts.

30. September 1999 – Beginn des Zweiten Tschetschenienkrieges

26. März 2000 – Wladimir Putin wird zum Präsidenten gewählt.

26. Dezember 2000 – Rückkehr zur sowjetischen Nationalhymne (neuer Text).

25. Oktober 2003 – Verhaftung des Oligarchen Michail Chodorkowski, Bruch der Oligarchenmacht.

2004-2007 – Boomjahre, Rückzahlung sämtlicher Auslandsschulden.

2. März 2008 – Dmitri Medwedjew wird Präsident.

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