© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  34/11 / 19. August 2011

Zeitschriftenkritik: Merkur
Selbstgebasteltes Gedächtnis
Thorsten Thaler

Nachdem er unlängst erst in einem fulminanten Buchbeitrag (JF 31-32/11) den Sozialphilosophen Jürgen Habermas auf jenes intellektuelle Zwergenmaß zurechtgestutzt hat, das ihn ausmacht, widmet sich der Althistoriker Egon Flaig nun in einem Aufsatz in der Monatszeitschrift Merkur (Heft 8, August 2011) der Dekonstruktion der Begriffe „historisches Trauma“ und „kollektives Gedächnis“ beziehungsweise „kollektive Verdrängung“. Flaig verweist zunächst darauf, daß das kollektive Gedächtnis keine Metapher sei, sondern ein Konzept; längst bastelten sich ganze Kollektive Vergangenheiten zusammen. Er zitiert dazu den 2009 verstorbenen jüdischen Geschichtsprofessor Yosef Hayim Yerushalmi mit dessen Reflexionen über das Vergessen und schreibt dann: „Der Begriff des kollektiven Vergessens ist demnach genausowenig mit individuellen Vorgängen verkettet wie der Begriff des kulturrellen Gedächtnisses. Da Erinnern gebunden ist an Erfahren, kann ein Kollektiv nichts vergessen, was es nicht erfahren hat. Genausowenig wie die heute lebenden Generationen des jüdischen Volkes den Auszug aus Ägypten vergessen können (denn sie haben am Exodus nicht teilgenommen), genausowenig können sie ihn erinnern, und zwar aus demselben Grund.“

Seltsamerweise, so Flaig weiter, drängen die Erkenntnisse der Memorialforschung jedoch in Debatten dann nicht durch, wenn es sich um die kollektiven Gedächtnisse „mancher sogenannter Opfergruppen“ handelte. Statt dessen kämen in den Diskussionen „sehr unvermittelt“ Konzeptionen zu Wort, die von der intergenerationellen Weitergabe eines Traumas ausgingen. Diese Konzepte seien über mehr als drei Jahrzehnte von Psychologen entwickelt worden, die sich vorwiegend mit den Kindern und Enkelkindern der Schoah befaßten. Obwohl sie mit der Memorialforschung unvereinbar seien, werde diese Unvereinbarkeit „höflich oder systematisch ignoriert“.

Flaig (Jahrgang 1949), der an der Uni Greifswald lehrt, kritisiert, daß die „deutenden Eliten“ Ereignisse und Kollektive der Vergangenheit okkupierten, die mit ihnen wenig oder gar nichts zu tun haben mögen, deren negative Erfahrungen sie aber als eigene „Erfahrung“ aufnähmen. Dabei sei es völlig egal, ob das Erinnerte tatsächlich geschehen sei. Sämtliche kollektiven Gedächtnisse bestünden „oftmals aus kollektivem Wahn – insbesondere dort, wo es gilt, sich als Opfer einer Diskriminierung geltend zu machen“. Es sei zu einem „allerorten zu beobachtenden, besinnungslosen Wettlauf zu den vornehmsten Plätzen auf dem Podest der historischen Opfer“ gekommen.

Ebenfalls sehr lesenswert ist in der gleichen Ausgabe des Merkur ein Aufsatz von Konrad Adam über das Schulwesen in Deutschland („Bildung läßt sich nicht umverteilen“). Seine Botschaft ist klar: „Die Schule muß nicht ständig neu erfunden werden; das glauben nur die Modellbaumeister, die von ihrer Marotte leben.“ Vor allem hänge es am Lehrer, meint Adam, ob die Erziehung glückt und der Unterricht etwas taugt.

Kontakt: Merkur, Mommsenstraße 7, 10629 Berlin, Telefon: 030 / 32 70 94 14. Das Einzelheft kostet 12 Euro, ein Jahresabonnement 120 Euro. www.online-merkur.de

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