© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  34/11 / 19. August 2011

Brutale Kampfansage an den Staat
London-Reportage: Auch nach Ende der Krawalle und hartem Polizeivorgehen geben sich die gut organisierten Drogenbanden selbstbewußt
Hinrich Rohbohm

Lässig lehnt Lewis an der grauen Hauswand in der Walworth Road, in seinen Händen ein Gummiband, das er in unregelmäßigen Abständen mal dehnt und mal wieder lockert. Der Sohn jamaikanischer Einwanderer trägt eine rote Mütze, obwohl die Tagestemperatur bei 23 Grad liegt. „That’s it“, sagt er immer wieder euphorisch, auf die Londoner Krawallnächte der vergangenen Woche angesprochen. Der 20jährige ist Mitglied in einer Gang. Und er ist stolz darauf. Stolz, dazuzugehören, dabeizusein.

Voller Begeisterung erzählt er von den Bränden. Den Plünderungen. Den Attacken gegen die „Feds“, wie in Bandenkreisen die englischen Polizisten verächtlich genannt werden. Seinen richtigen Namen möchte er nicht nennen, auch Fotos von ihm sind nicht drin. Ob er der „Cartel Crew“, der „Firehouse Posse“ oder einer ganz anderen Bande angehört, will er ebenfalls nicht verraten. Das sind seine Bedingungen. Er ist einer jener, die über Mobiltelefon oder den Kurznachrichtendienst Twitter innerhalb kürzester Zeit mobilisiert wurden, das Krawallpotential erhöhten und so die Londoner Polizei zeitweise in ernste Verlegenheit brachten. „Wenn es Action gibt, läuft das bei uns so“, erklärt er. Dann, wenn etwa Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Banden anstehen.

Doch diesmal war es anders. Diesmal ging es nicht gegen eine Bande. Es ging gegen den Staat. Gegen England und dessen Ordnungshüter. Ein Gegner, der die Banden zusammenschweißte. Der Grund: Die Polizei hatte am 4. August dieses Jahres den 29 Jahre alten mutmaßlichen Drogendealer Mark Duggan im Verlauf einer geplanten Festnahme im Londoner Multikulti-Stadtteil Tottenham erschossen.

Den Sicherheitsbehörden zufolge soll Duggan ein sogenannter „Major Player“ der „Star Gang“ gewesen sein und für einen Drogenring gearbeitet haben. Beim Festnahmeversuch soll der Schwarze mit einer Waffe auf die Polizei gefeuert haben, die daraufhin das Feuer erwidert habe und Duggan tötete. Ballistische Untersuchungen hingegen deuteten darauf hin, daß das im Funkgerät eines Polizisten steckengebliebene Projektil auch zu einer Polizeiwaffe gehören könne.

Wenig polizeiliche Präsenz in den Problemvierteln

Mittlerweile ließ die Independent Police Complaints Commission (IPCC) verlautbaren, daß es keine Beweise dafür gebe, daß Duggan auf die Polizei gefeuert habe. Knapp 200 Anwohner demonstrierten daraufhin zwei Tage später, forderten Aufklärung über die Todesumstände des Mannes, den sie in der Tottenhamer Szene „Starrish Mark“ nannten. „Die Polizeischüsse waren eine Kampfansage“, ist Lewis überzeugt. „Es geht darum, wer das Sagen hat, wer der Boß ist“, meint der Jamaikaner.

In den vergangenen Jahren zeigte die Polizei auf den Straßen von Tottenham aufgrund von Einsparmaßnahmen zunehmend weniger Präsenz. Der multikulturell geprägte Stadtteil sei als sozialer Brennpunkt entschärft worden, ließ die Metropolitan Police noch vor drei Jahren verlauten, nachdem es 1985 schon einmal zu schweren Ausschreitungen gekommen war.

„Nicht die Polizei, sondern die Gangs haben in ihren Revieren für Ruhe gesorgt“, widerspricht Lewis. Der Tod Duggans werde von ihnen als Herausforderung verstanden. Die plötzlichen Gewaltausbrüche aus der zunächst friedlichen Demonstration heraus seien genau so gewollt gewesen, ist sich Lewis sicher. Kurz nachdem es in dem Stadtteil im Norden Londons brannte, Polizisten angegriffen und Schaufensterscheiben eingeschlagen wurden, seien bereits die Banden in Brixton informiert gewesen. Der Gegner: Polizei, Staat und England. „Bei einigen von uns auch einfach nur die Weißen“, gibt Lewis zu, der voller Stolz davon spricht, wie seine Gang mit dabei war, als London brannte und Inland wie Ausland den Atem anhielten.

„Es war großartig“, genießt er noch immer die Gewaltaktionen und blickt mit Genugtuung auf die Holzspanplatten, die jetzt in der Walworth Road die eingeschlagenen Fensterscheiben verdecken. Bauarbeiter sind mit Schaufeln und Rüttelplatten angerückt, um die während der Krawalle aus der Straße herausgerissenen Pflastersteine neu zu befestigen. Polizeisirenen ertönen im Minutentakt. Die Anzahl der Sicherheitskräfte in London wurde von 6.000 auf 16.000 erhöht. Immer wieder fahren mehrere Dutzend Gefangenentransporter im Konvoi und unter Sirenengeheul über Londons Straßen. Die Amtsgerichte arbeiten rund um die Uhr, urteilen über die mittlerweile mehr als 1.500 Festgenommenen, von denen zahlreiche Täter per Überwachungskamera identifiziert werden konnten. Die englischen Zeitungen veröffentlichen Fotos von Plünderern, enthüllen neue Gesichter der Täter.

Linke benennen soziale Ungerechtigkeit, Banken und den Turbokapitalismus als Ursache der Gewaltausbrüche. Rechte machen eine jahrelang verfehlte Einwanderungspolitik für die Krawalle verantwortlich. In gewisser Weise liegen beide damit richtig.

Doch es existiert noch eine andere Seite der „riots“, wie die Engländer die Ausschreitungen nennen. Denn nicht wenige der Täter entstammen wohlhabenden bürgerlichen Familien. Auch Weiße sind darunter. Eine 19 Jahre alte Millionärstochter plünderte ebenso, wie Jura-Studenten. Die 18 Jahre alte Vorzeige-Sportlerin und Olympia-Botschafterin Chelsea Ives wird von einer Überwachungskamera bei einer Attacke auf einen Mobiltelefonladen ertappt. Und die frisch mit einem Studienabschluß versehene schwarze Sozialarbeiterin Natasha Reid bedient sich ebenfalls in aufgebrochenen Läden. Kinder im Alter von elf Jahren eifern den Erwachsenen nach, werfen mit Steinen auf Schaufenster und Menschen.

Ein Trittbrettfahrer-Effekt entsteht, die Krawalle greifen auf weitere Londoner Stadtteile über, unter anderem auf Southwark, Enfield und Brixton. Auch andere englische Städte wie Birmingham, Manchester oder Wolverhampton werden in Mitleidenschaft gezogen. Gebäude brennen, Schaufensterglas zerbricht. Die Bilanz nach vier Tagen Unruhen: fünf Tote, 26 Familien, die aufgrund der Brände obdachlos wurden, 227 Millionen Euro Sachschaden.

Kebabverkäufer: „Wir sind die doppelten Verlierer“

Andererseits gibt es Leute wie Metin, den tapferen Türken von Tottenham. Ein 34 Jahre alter Kebab-Ladenbesitzer, der sich gemeinsam mit Freunden und benachbarten Geschäftsleuten Holzknüppel schnappte und dem rasenden Mob entgegenstellte, um die eigenen Einrichtungen zu schützen. „Wir sind die doppelten Verlierer“, betont er. „Zuerst kommen die Gangs und Chaoten und zerstören unsere Läden. Dann kommen Presse und Bürgerwehren und werfen uns mit Randalierern in einen Topf. Damit zerstören sie auch noch unseren Ruf.“

„Wir hatten Glück“, meint dagegen ein pakistanischer Geschäftsmann, dessen Handyladen von den Unruhen verschont geblieben ist. Wenn es zum Äußersten gekommen wäre, hätte auch er sich zur Wehr gesetzt. „Wer sich in Tottenham auf die Polizei verläßt ist verloren“, meint er. „Ja, jetzt sind sie da und zeigen Stärke, aber im Laufe der Jahre war doch immer weniger Einsatzpersonal auf den Straßen.“ Banden statt Bobbies würden das Bild in dem multikulturellen Problemviertel prägen. Wenn sich die Gemüter beruhigt hätten und die Aufmerksamkeit der Medien sich wieder anderen Themen zuwende, gehe alles wieder von vorn los, vermutet der Pakistani.

Das sieht auch Cedrick so, ein weißer Kneipier im von Schwarzen geprägten Tottenham. Er habe das seit langem kommen sehen, fühlt er sich in seinen Warnungen bestätigt. „Schon vor Jahren hatte ich meinen Bekannten prophezeit, daß wir einen Bürgerkrieg bekommen werden, wenn wir Einwanderung und Kriminalität nicht konsequent bekämpfen.“ Für ihn sind die Ausschreitungen lediglich Vorboten von größeren Krawallen. „Die Probleme mit der Bandenkriminalität sind doch noch immer nicht gelöst“, gibt er zu bedenken.

Londons Polizisten stehen mit Schutzwesten auf den Straßen, tragen Schußwaffen bei sich. „Wir werden euch finden. Ihr werdet für eure Taten bezahlen“, ließ sich Premierminister David Cameron inzwischen im englischen Fernsehen zu einer Kampfansage an die Plünderer und Krawallmacher hinreißen, nachdem er aufgrund der Unruhen seinen Sommerurlaub abgebrochen hatte und nach London zurückgekehrt war. „Nein“, sagt Lewis. „Wir finden ihn. Er ist es, der bezahlen wird“, droht er dem britischen Regierungschef und spannt wie zum Beweis schon mal sein Gummiband.

 

Chronologie der Krawalle:

4. August 2011

Der 29 Jahre alte mutmaßliche Drogendealer Mark Duggan wird im Zuge einer geplanten Festnahme von Polizeibeamten erschossen.

6. August 2011

Eskalation einer Demonstration mit 200 Teilnehmern zu den Todesumständen von Mark Duggan. Schaufenster werden eingeschlagen, Busse, Polizeifahrzeuge und Gebäude in Brand gesteckt. Es kommt zu ersten Plünderungen in Tottenham. 42 Festnahmen, 29 Verletzte.

7. August 2011

Die Ausschreitungen greifen auf die Londoner Stadtteile Enfield, Brixton und Southwark über. Mehrere hundert teilweise vermummte Jugendliche im Alter zwischen elf und 18 Jahren zerstören Schaufensterscheiben, plündern Geschäfte und greifen die Polizei mit Steinen an.

8. August 2011

Krawalle in den Stadtteilen Hackney, Croydon und Lewisham mit Bränden und Angriffen auf die Polizei. Plünderungen und Zerstörung von Geschäften auch in Birmingham, Liverpool, Leeds, Nottingham und Bristol.

9. August 2011

Während in London die Unruhen zum Erliegen kommen, sind nun auch Manchester, Wolverhampton und West Bromwich von den Krawallen betroffen. In Birmingham werden bei den Unruhen drei Menschen getötet.

 

Die ehrwürdige Times fragt, und die Täterin Natasha Reid antwortet sprachlos: „Warum hab ich das getan?“

Nach der Randale im Londoner Stadtteil Croydon: Insgesamt fünf Tote, 26 Familien obdachlos und Sachschäden in Höhe von 227 Millionen Euro

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