© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  34/11 / 19. August 2011

Grenzenlose Erinnerung
Mauerbau: Tausende Berliner gedenken an der Bernauer Straße den Opfern
Lion Edler

Die Atmosphäre gleicht einem Volksfest. Tausende Berliner und Touristen aus aller Welt versammeln sich an der Gedenkstätte Berliner Mauer in der Bernauer Straße, um dem Bau der Sperranlage vor 50 Jahren zu gedenken und sich zu informieren. Wohin man sich auch wendet, sieht man entspannte Gesichter. Auf der Wiese lümmeln sich Studenten und genießen die Sonne, an der Veranstaltungsbühne steht ein mobiler Würstchenverkäufer. „Open-Air-Geschichtsstunde“ nennt das überspitzt die taz.

Der Weg zur neuen Freiluftausstellung war steinig. Nach jahrelangem Streit beschloß der Berliner Senat 2006 ein Konzept, in welchem die Bernauer Straße eine zentrale Rolle spielen sollte. Einst verlief entlang dieser Straße der Todeswall zwischen kommunistischem Schreckensreich und westlicher Welt. Durch spektakuläre Fluchtaktionen aus den Fenstern von Häusern, die unmittelbar an der Grenze standen, wurde die Straße zum Symbol für die Brutalität eines Regimes, das mit einer Mauer seine Bürger einsperrte und auf Grenzflüchtlinge schoß. Organisatorisch verantwortlich für die Gedenkstätte ist die 2008 gegründete „Stiftung Berliner Mauer“. In Kürze soll auch der letzte Gedenkstättenabschnitt eröffnet sein, der am östlichen Teil der Bernauer Straße liegt. Dann soll es vollbracht sein. 4,4 Hektar wird das zwei Kilometer lange Gelände dann umfassen.

Am Jahrestag sind die Reaktionen der Besucher zumeist begeistert. Auch Steve Kamin (28) und Mathias Conrad (27) haben nach dem Strandvolleyball einen Abstecher zur Gedenkstätte gemacht und sind gefesselt. Die entspannte Atmosphäre findet Mathias dabei gerade richtig. „Das Gedenken ist nicht mehr so wie vor dreißig, vierzig Jahren“, findet der Berliner, „die junge Generation geht lockerer damit um.“ Während Steve sich bislang noch nicht näher mit der Thematik befaßt hatte, kam Mathias nicht um die DDR-Geschichte herum, denn er wohnte einst in der berühmten Bernauer Straße. Ob sie im Gegensatz zu vielen Linkspartei-Wählern froh sind, daß die Mauer gefallen ist? Die jungen Männer zögern nicht lange. „Definitiv“, sagt Steve. „Auf jeden Fall“, versichert auch Mathias, „froh, daß die Mauer gefallen ist, bevor wir ins Teenager-Alter gekommen sind und das dann alles voll mitbekommen hätten.“

Eine besinnliche Stimmung kommt nur beim Gedenkgottesdienst in der nahen Versöhnungskapelle auf, bei dem Bundespräsident Christian Wulff, Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) auftreten. Während der Schweigeminute um zwölf Uhr, bei der auch die Berliner Busse und Bahnen stillstehen, können einige ältere Berliner ihre Tränen nicht verbergen.

Kranz der Linkspartei  sorgt für Diskussionen

Den ganzen Tag über haben die Besucher in einem umfangreichen Programm die Qual der Wahl. Berichte von Fluchtschicksalen bietet etwa ein „Zeitzeugencafé“, und im Dokumentationszentrum wird die Ausstellung „Berlin, 13. August 1961“ gezeigt, die die Vorgeschichte und den Ablauf des Mauerbaus erklärt. Großer Andrang herrscht auch vor dem ausgegrabenen Keller des ehemaligen Hauses der
Bernauer Straße 10a. Hier wurden nach dem Mauerbau die Türen vernagelt, Fenster und Keller zugemauert, bis im November 1961 alle Hausbewohner vertrieben waren. Vor der Veranstaltungsbühne folgen die Besucher dem Dokumentarfilm „Mauerhaft – der private Blick auf die Mauer“ von Claus Oppermann und Gerald Grote.

Rege Diskussionen unter den Besuchern lösen die Gedenkkränze aus, die verschiedene Organisationen und Parteien direkt vor einem Teil der ehemaligen Mauer niedergelegt haben. Besonders deshalb, weil darunter auch ein Kranz des Berliner Landesvorstands und der Berliner Fraktion der Linkspartei ist. Einige sehen darin eine allmähliche Aufarbeitung der Vergangenheit durch die SED-Erben, für andere ist der Kranz im Gegenteil besonders pietätlos. „In Gedenken“ steht auf dem roten Band des Kranzes. Eine vage Formulierung. Kein Wunder also, daß einige Besucher Zettel vor den Kranz gelegt haben, auf denen sie ihre teilweise bitteren Kommentare abgeben. „In Gedenken an die Grenzer – und was ist mit den Opfern?“ schreibt einer. „Und Parteivorsitzende Lötzsch versucht, die Schuld der SED am Mauerbau zu relativieren. Die Linke – Heuchler!“ macht ein anderer seinem Ärger Luft. Eine „Schweinerei“, die sich nicht gehörr, wettert ein weiterer.

Auch Monika Kruse (67) schimpft wütend vor sich hin. „Genauso ist es, eine Super-Schweinerei!“ pflichtet sie dem Zettelschreiber bei. „Die haben doch die Mauer-Opfer alle auf dem Gewissen, und jetzt heucheln sie herum!“ Von der Gedenkveranstaltung ist die Rentnerin durchweg fasziniert, nur eines bemängelt sie: „Es fehlt eine deutsche Flagge!“ Kruse kommt aus Schleswig-Holstein und interessiert sich ebenso wie ihr Mann Kay (72) für die DDR-Geschichte. Auch Herr Kruse zeigt sich „beeindruckt“ von der Gedenkstätte und freut sich besonders über die hohen Besucherzahlen. Er finde es wichtig, sagt Kruse, „daß das nicht vergessen wird“. Schließlich hätten im Osten Berlins etwa die Hälfte der Einwohner DDR-nostalgische Einstellungen. Den Kranz der Linkspartei empfindet er ebenfalls als „Heuchelei“.

Das Gedenkstättenareal an der Bernauer Straße ist ganzjährig Montag bis Sonntag von 8.00 bist 22.00 Uhr geöffnet; das Besucherzentrum von April bis Oktober, Dienstag bis Sonntag von 9.30 bis 19.00 Uhr, www.berliner-mauer-gedenkstaette.de

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