© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/11 / 12. August 2011

Für ein Turkmenisches Großreich gegen Stalin
Eine beeindruckende Forschungsarbeit von Jörg Hiltscher über die geheimen Pläne der Türkei, in den Zweiten Weltkrieg einzugreifen
Wolfgang Kaufmann

Anfang Juli 1942 schien es so, als ob sich die deutsche Wehrmacht endgültig auf der Siegerstraße befände: Rommels Afrikakorps hatte Tobruk eingenommen und stand nun bei El Alamein, also 100 Kilometer westlich des Suezkanals; gleichzeitig konnte die erste Operationsphase der Sommeroffensive an der Ostfront erfolgreich abgeschlossen werden, womit die Grundlage für den geplanten Vorstoß in Richtung der Ölfelder von Baku gelegt war. Das ist allgemein bekannt.

Sehr viel weniger bekannt ist hingegen die Tatsache, daß zur gleichen Zeit ein gigantischer Truppenaufmarsch südwestlich der georgischen und armenischen Grenze stattfand: Auf Befehl des türkischen Generalstabschefs Fevzi Cakmak wurden insgesamt 43 Divisionen mit 650.000 Mann nach Ostanatolien verlegt. Dabei ging es offenkundig nicht darum, die territoriale Integrität der Türkei gegen einen möglichen Angriff Stalins zu schützen, denn der konnte in Transkaukasien lediglich 80.000 Soldaten aufbieten (darunter Frauen-Bataillone und armenische Milizen).

Vielmehr agierte Cakmak als Exponent pantürkistischer Kreise, welche davon träumten, im Bündnis mit den siegreichen Achsenmächten Deutschland und Japan eigene Großmachtambitionen zu verwirklichen. Wie umfassend die letzteren waren, ergibt sich aus einer Notiz des Berliner Auswärtigen Amtes nach Gesprächen mit dem Pantürkisten Nuri Pascha: „Von bisher sowjetischen Gebieten werden in erster Linie Aserbaidschan und das nördlich davon gelegene Dagestan beansprucht, ferner die Krim, sowie im großen und ganzen das Gebiet zwischen Wolga und Ural.“ Eine weitere Forderung galt „Turkestan, und zwar einschließlich des westlichen Teils des formell zu China gehörigen, jetzt unter Sowjeteinfluß stehenden früheren Ost-Turkestan.“ Zudem reklamierte Nuri „als turkvölkisch den Nordwestteil des Iran bis hinunter nach Hamadan und einen Grenzstreifen des nördlichen Persiens vom Südostzipfel des Kaspischen Meeres entlang der alten Sowjetgrenze.“ Und er versäumte auch nicht, „von irakischem Gebiet die Gegend von Kirkuk und Mossul“ sowie „einen Streifen Syriens“ zu verlangen.

Bei dem Versuch, ein derartiges Großreich zu schaffen, hätte sich die Türkei natürlich zwischen alle Stühle gesetzt. Zum einen wäre es zum Konflikt mit Deutschland und Japan gekommen, weil Berlin und Tokio auf die gleichen Regionen reflektierten. Zum anderen stellte das Ganze eine überaus dezidierte Kampfansage an die UdSSR beziehungsweise Großbritannien dar. Deshalb formierte sich in Ankara eine starke Opposition gegen die pantürkistischen Hasardeure um Cakmak und den Ministerpräsidenten Refik Saydam – zumal es Anzeichen dafür gab, daß die beiden einen Putsch vorbereiteten, der sie in den Besitz der alleinigen Macht bringen sollte.

In Kenntnis dieser Konstellation wird begreiflich, warum Saydam in der Nacht vom 7. zum 8. Juli 1942 einem plötzlichen, höchst mysteriösen „Herzanfall“ erlag und sein kongenialer Innenminister und Geheimdienstchef Fikri Tuzer kurz darauf haargenau das gleiche Schicksal erlitt, woraufhin der ebenso anglophile wie neutralistische Staatspräsident Ismet Inönü in der Lage war, die restlichen Pantürkisten aus dem Kabinett zu verbannen und Cakmak zu isolieren. Im übrigen verkündete Inönü selbst ganz offen vor der Großen Nationalversammlung, daß er über Mittel verfüge, um Ehrgeizlinge, die den Interessen der Türkei schaden, „auszuschalten“.

Diese bemerkenswerten und auf jeden Fall kriegsentscheidenden Ereignisse – denn im Sommer 1942 war die Türkei mit ihrer 1,2-Millionen-Mann-Armee zweifellos das sprichwörtliche Zünglein an der Waage – sind von der Geschichtswissenschaft bisher genauso konsequent ignoriert worden wie der Umstand, daß Hitler kaum etwas von den Machtkämpfen in Ankara erfuhr  – verantwortlich für die mangelhafte Unterrichtung des „Führers“ war die Ineffizienz der immerhin 14 deutschen Nachrichtendienste, welche Informationen über die Türkei sammelten.

Um so verdienstvoller ist es, daß sich Jörg Hiltscher in seiner nunmehr publizierten Dissertation mit der türkischen Innen- und Außenpolitik während des Zweiten Weltkrieges und ihrer unzureichenden Berücksichtigung durch die NS-Führung befaßt, wobei die Art und Weise seines Herangehens besondere Erwähnung verdient: In einem Kraftakt sondergleichen hat der ansonsten in der Privatwirtschaft tätige Hiltscher sage und schreibe 200.000 Dokumente ausfindig gemacht und ausgewertet – und das, ohne auch nur einen einzigen Cent aus staatlichen oder anderen Fördertöpfen in Anspruch zu nehmen. Ebenso beeindruckend ist die Akribie, mit der er nebenher gleich noch Ordnung in das Gewirr der vielen Nachrichtendienste des Dritten Reiches bringt, denn damit steht er ebenfalls allein auf weiter Flur.     

Deshalb kann man mit Fug und Recht behaupten, daß der Titel von Hiltschers Buch ein Paradebeispiel für übertriebene Bescheidenheit ist, denn er verrät in keiner Weise, wieviel aufsehenerregende Enthüllungen und neue Erkenntnisse der Leser geboten bekommt. Andererseits kontrastiert Hiltschers nüchterne Zurückhaltung wohltuend mit der Schaumschlägerei saturierter akademischer Historiker vom Schlage eines Peter Longerich, welche ihre ewig gleichen Banalitäten, die aus den ewig gleichen Quellen destilliert wurden (JF 14/11), als bahnbrechende wissenschaftliche Leistungen verkaufen.

Jörg Hiltscher: Die deutsch-türkischen Beziehungen 1940–1942 in der Perzeption Hitlers, Ribbentrops und Papens.. Ludwigsfelder Verlagshaus, Ludwigsfelde 2011, 578 Seiten, broschiert, 35 Euro

Foto: Refik Saydam und Fevzi Cakmak: Großmachtambitionen im Bündnis mit Deutschland

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