© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/11 / 12. August 2011

„Kein Vertrag mit unseren Feinden“
Vor siebzig Jahren veröffentlichten Großbritannien und die USA die Atlantikcharta. Von deren Grundsätzen blieb nach Kriegsende nicht mehr viel übrig.
Karlheinz Weissmann

Unter strengster Geheimhaltung trafen sich am 14. August 1941 der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt und der britische Premier Winston Churchill auf dem Schlachtschiff „Prince of Wales“ in der Nähe Neufundlands. Es war ihre erste persönliche Begegnung, der Churchill mit hochgespannten Erwartungen entgegensah, da er auf den raschen Kriegseintritt der Vereinigten Staaten von Amerika hoffte, die Fortsetzung jenes gemeinsamen Kampfs gegen die „Hunnen“, den man vor langem begonnen hatte. Diese Hoffnung wurde zwar enttäuscht, schon aufgrund der innenpolitischen Rücksichten, die Roosevelt zu nehmen hatte, aber Churchill berichtete, der Präsident habe ihm zugesichert, den „non declared war“ gegen die Achsenmächte zu verschärfen, um einen „Zwischenfall“ zu provozieren, der die amerikanische Bevölkerung kriegswillig machen werde.

Für die Öffentlichkeit blieb es bei der von Roosevelt wie Churchill unterzeichneten „Atlantikcharta“, einer Art Politikprogramm beider Länder, ausgerichtet auf „eine bessere Zukunft der Welt“. Entsprechend hieß es unter Punkt 1, die Vereinigten Staaten und Großbritannien strebten „keinerlei Bereicherung an, weder in territorialer noch in anderer Beziehung“. Man verzichte ausdrücklich auf Grenzänderungen gegen den Willen betroffener Völker, jede Nation erhalte volle Selbstbestimmung, auch im Hinblick auf ihre Verfassungsform.

Weiter ging es um die Gewährleistung der „Freiheit der Meere“ und des Freihandels, internationale Kooperation, Abrüstung und das Prinzip des sozialen Ausgleichs, um den Frieden zu sichern. Nur an einer Stelle – in Punkt 6 – wurde die konkrete politische Lage angesprochen, insofern man den Feind markierte, gegen den sich die Charta richtete: Roosevelt wie Churchill gaben ihrer Hoffnung Ausdruck, „daß nach der endgültigen Vernichtung der Nazi-Tyrannei ein Frieden geschaffen werde, der allen Völkern erlaubt, innerhalb ihrer Grenzen in vollkommener Sicherheit zu leben, und der es allen Menschen in allen Ländern ermöglicht, ihr Leben frei von Furcht und von Not zu verbringen.“

Auch die zwangsweise Entwaffnung von Aggressoren, die am Schluß des Textes erwähnt wird, muß man entsprechend interpretieren. Jedenfalls wurde Italien in dem Zusammenhang nicht genannt, und Japan fehlt genauso wie die Sowjetunion. Das erklärt sich aufgrund der Tatsache, daß Japan zu diesem Zeitpunkt zwar seine Expansion auf dem asiatischen Kontinent vorantrieb, aber noch nicht mit den USA oder Großbritannien zusammengestoßen war, die Sowjetunion zwar den Weltkrieg mit ausgelöst hatte, aber nach dem deutschen Angriff im Juni des Jahres zu den Gegnern Hitlers gehörte und vor allem von Churchill als Wunschpartner einer „Grand Alliance“ betrachtet wurde.

Man kann auch vermuten, daß das Schweigen über die Sowjetunion mit deren prekärer militärischer Situation zusammenhing. In der ersten Hälfte des August 1941 war nach einer Großoffensive der Wehrmacht Smolensk gefallen und Odessa eingekesselt. Beobachter rechneten mit dem militärischen Zusammenbruch Stalins vor Jahresende. Trotzdem hielt Moskau bei den Bündnisverhandlungen mit den Briten zäh an der Beute fest, die es im Bündnis mit Deutschland gewonnen hatte. Das östliche Polen und das Baltikum betrachtete Stalin als integrale Bestandteile seines Reiches. Er war allerdings geschmeidig genug, entsprechende Forderungen nicht ausdrücklich zu wiederholen, sondern sich am 24. September einer Erklärung über die Geltung der Atlantikcharta anzuschließen. Schärfer reagierten die polnische wie die tschechoslowakische Exilregierung, die nicht nur eine Restitution ihrer Staaten nach Kriegsende verlangten, sondern außerdem eine Aufteilung Deutschlands beziehungsweise die Abtrennung ostdeutscher Gebiete (Ostpreußen, Danzig und Schlesien für Polen, das Sudetenland für die Tschechoslowakei) sowie die Austreibung der dortigen Bevölkerung.

Die Atlantikcharta schloß derartige Maßnahmen aus. Auch wenn es sich nicht um einen formellen Vertrag handelte, betrachtete Roosevelt den Text durchaus als verbindlich; deshalb wurde er auch in die Gründungsdokumente der Vereinten Nationen aufgenommen, die den Text als „gemeinsames Programm von Zielen und Grundsätzen“ anerkannten. Churchill dagegen suchte, den verpflichtenden Charakter von Anfang an zu mindern. Das hatte seinen Grund zum einen in dem Widerwillen gegen Roosevelts Plan, Großbritannien lediglich den Posten des zweiten „Weltpolizisten“ zuzugestehen, und zum anderen in der Sorge, daß sich die Forderung nach „Freiheit der Meere“ – so oft zum eigenen Vorteil erhoben – nun gegen das Empire kehren würde.

Vor allem aber fürchtete Churchill, daß sich die Völker des Commonwealth auf das Selbstbestimmungsrecht berufen könnten, um ihre Unabhängigkeit zu fordern, und er seinen Verhandlungsspielraum Stalin gegenüber verlieren würde, mit dem er zu Abmachungen kommen wollte, wie sie die europäischen Großmächte in der Vergangenheit zwecks Schaffung von Einflußzonen getroffen hatten.

Diese Strategie entsprach nicht nur der Tradition britischer Außenpolitik, sondern auch den konkreten Angeboten, mit denen London Moskau seit dem Herbst 1940 köderte, um es zum Seitenwechsel zu bringen. Wohl ging Churchill nicht so weit wie jene Angehörigen des Foreign Office, die eine Art Gleichgewichtssystem zu schaffen hofften, bei dem die Sowjetunion den USA die Waage halten sollte, aber er nutzt doch nach der Konferenz von Casablanca im Januar 1943, die die Forderung nach „bedingungsloser Kapitulation“ festlegte, die Gelegenheit, den amerikanischen Widerstand gegenüber Stalins territorialen Forderungen zu schwächen. Gleichzeitig trat er immer offener mit der Behauptung auf, daß nie daran gedacht gewesen sei, die Atlantikcharta im deutschen Fall anzuwenden. In einer Unterhausrede vom 24. Mai 1944 erklärte er dementsprechend: „Die Atlantikcharta bleibt ein wichtiger Wegweiser, der eindrucksvoll die einheitliche Meinung aller jetzt gegen die Tyrannei ankämpfenden Mächte wiedergibt (...) die Atlantikcharta bindet uns in keiner Weise mit Bezug auf Deutschlands Zukunft, sie ist weder ein Handel noch ein Vertrag mit unseren Feinden.“

Bereits drei Tage nach dem Treffen von Roosevelt und Churchill hatte der Völkische Beobachter einen Leitartikel von Joseph Goebbels unter der Überschrift „Ein Attentat auf den gesunden Menschenverstand“ gedruckt. Der Propagandaminister spielte gekonnt auf der Klaviatur des deutschen Mißtrauens gegenüber westlichen Versprechungen, die allzu sehr an Wilsons „14 Punkte“ erinnerten, in denen 1918 auch vollmundig vom Frieden ohne Sieger und Besiegte samt allgemeiner Abrüstung und dem Selbstbestimmungsrecht die Rede gewesen war. Das hatte die deutsche Seite als Vorgabe betrachtet, während die Entente nach dem Waffenstillstandsersuchen des Reiches von solchen Grundsätzen nichts mehr wissen wollte. Die Erwägung, daß es sich bei der Atlantikcharta um dasselbe Täuschungsmanöver handelte, hat allerdings für die weitere Entwicklung bis zum Zusammenbruch kaum eine Rolle gespielt.

Erst nach 1945 erinnerte man sich ihrer in der Bundesrepublik als eines nützlichen Belegs, der ganz ähnlich wie der Friedensvertragsvorbehalt der Potsdamer Erklärung als Beweis dafür dienen sollte, daß die Vereinigten Staaten wie Großbritannien grundsätzlich willens gewesen waren, zwischen Deutschland und Hitler zu unterscheiden, die Fehler, die nach dem Ersten Weltkrieg gemacht worden waren, nach dem Zweiten zu unterlassen und Deutschland nicht nur als Einheit zu erhalten, sondern ihm auch einen Platz in der Völkerfamilie zuzugestehen. In der Atmosphäre des Ost-West-Konflikts hatte man gegen diese Sicht der Dinge weder in London noch in Washington etwas einzuwenden. Allerdings störte das Insistieren Bonns auf völkerrechtliche Positionen zunehmend die Suche nach einem Ansatzpunkt für die Entspannung zwischen den Supermächten.

Der Prozeß der Annäherung zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjet-union zwang auch die Bundesrepublik zur Anpassung, und seit den sechziger Jahren veränderten sich die Akzente im Hinblick auf die Interpretation der alliierten Deutschlandplanungen während des Krieges. Jetzt betonte man den rein formellen Charakter der Atlantikcharta, in der man nichts als eine Art politischer Utopie zu sehen habe, eine ideale Welt, so gut gemeint, daß den Verfassern unmöglich Vorhaltungen zu machen waren, wenn sie an den Realitäten zuschanden wurde.

Foto: Roosevelt (links sitzend) und Churchill 1941 an Bord der „Prince of Wales“, Seite der Atlantikcharta: Nie daran gedacht, die Atlantikcharta auf Deutschland anzuwenden

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