© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/11 / 12. August 2011

Lockerungsübungen
Bildungsferne Wohlständler
Karl Heinzen

Die Reallöhne von gering Qualifizierten sind zwischen 1990 und heute, so hat eine Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) ergeben, wieder auf das westdeutsche Niveau von Mitte der 1980er Jahre abgesunken. Das Versprechen der sozialen Marktwirtschaft, daß alle Erwerbstätigen am Wohlstandswachstum teilhaben können, ist gegenüber der Bevölkerungsgruppe der Geringverdiener in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten somit nicht eingelöst worden.

Dieses Phänomen mag bedauerlich sein. Es steht allerdings im Einklang mit der ökonomischen Logik. Mit dem Ende des Wettbewerbs der Systeme ist unsere Wirtschaftsordnung in eine Monopolrolle gerückt. Dies hat es erlaubt, Attraktivitätsmerkmale, die unter dem Konkurrenzdruck einer sozialistischen Alternative insbesondere sozial Schwachen geboten werden mußten, aufzugeben. Da westdeutsche Geringverdiener in den 1980ern nicht am Hungertuch nagten, kann von einer Verelendung aber keine Rede sein. Zudem ist zu bedenken, daß in dieser Einkommensgruppe sehr viele Migranten anzutreffen sind. Für sie ist der Vergleichsmaßstab nicht das deutsche Reallohnniveau vor einem Vierteljahrhundert, sondern die Wohlstandsperspektive, die ihnen ihr Ursprungsland geboten hätte. Die meisten von ihnen wissen daher, daß sie in Deutschland nicht in Armut leben, mag ihr Einkommen auch noch so niedrig sein.

Vor allem aber ist eine Unzufriedenheit von Erwerbstätigen am unteren Ende der Lohnskala nicht zu befürchten, da sie die ihnen von der öffentlichen Meinung angebotene Erklärung für ihre Misere akzeptieren: Geringverdiener können nicht mehr erwarten, da sie ja auch nur gering qualifiziert sind. Hätten sie mehr für ihre Bildung getan, stünden sie besser da.

Diese Schuldzuweisung wird durch die Untersuchung des IAB ebenfalls gestützt: Ihr zufolge konnten gut Qualifizierte seit 1990 deutliche Realeinkommenszuwächse verzeichnen – Meister beispielsweise um 18 Prozent und Universitätsabsolventen um 22 Prozent. Bei ihnen wird jedoch die aus der öffentlichen Wertschätzung der Bildung resultierende Anspruchshaltung nun zum Problem. Ihre Gehaltsforderungen lassen sich nur im Zaum halten, wenn der Konkurrenzdruck durch genügsamere Fachkräfte aus dem Ausland erhöht wird.

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