© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/11 / 12. August 2011

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weissmann

Mit dem Entschluß der Hamburger Kultusbehörde, der Schreibschrift den Abschied zu geben, wird jener Prozeß der Entpersönlichung der Schrift weiter vorangetrieben, der seit Beginn des 20. Jahrhunderts zu beobachten ist. Dabei war die Individualisierung der Schrift gerade erreicht, eine relativ späte Folge von Alphabetisierung und Literalisierung der Masse. Denn die Schrift hatte ursprünglich und für den längsten Zeitraum ihrer Geschichte einen gleichermaßen schematischen wie exklusiven Charakter. Erst mit der Neuzeit, als nach und nach die Mehrzahl der Europäer Lesen und Schreiben lernte, gewann die Unterschrift des einzelnen – und deren bewußte Gestaltung –, dann die Ausführung einer individuellen Schreibschrift, die bis dahin den Gebildeten vorbehalten war, an Bedeutung. Das erklärt die Überzeugung von der erzieherischen Wirkung des Schreibens und der Notwendigkeit des „Schönschreibens“ als Schulfach bis in die sechziger Jahre hinein.

Im nördlichen Europa erscheint die Romanik immer wuchtig, schwer, lastend, auch barbarisch. Man ist deshalb überrascht, wenn man sich in die seit alters zivilisierten Gegenden begibt, wo der Zusammenhang zwischen „romanisch“ und „römisch“ seine unmittelbare Evidenz zeigt, weil insbesondere die Gebäude der Romanik so gestaltet wurden, daß sie von ferne wirken, als ob sie in der Antike errichtet worden wären.

Die Forderungen der Bundesjustizministerin nach Gleichstellung von schwuler respektive lesbischer „Lebensgemeinschaft“ und Ehe und das Verlangen der baden-württembergischen Integrationsministerin, den Wahlzwang bei der doppelten Staatsbürgerschaft von Migranten aufzuheben, waren nicht nur absehbar, sie haben auch einen gemeinsamen Nenner: Erfüllung jenes inneren Gesetzes der Demokratie, demzufolge das Verlangen nach Tolerierung, dann nach Egalität über kurz oder lang zur Forderung nach Privilegien führt.

Bei Einführung von Schreibmaschinen kurz vor dem Ersten Weltkrieg merkte Georg Simmel an: „Damit ist aber nach der anderen Seite hin das Doppelte erreicht: einmal wirkt nun das Geschriebene seinem reinen Inhalte nach, ohne aus seiner Anschaulichkeit Unterstützung oder Störung zu ziehen, und dann entfällt der Verrat des Persönlichsten, den die Handschrift so oft begeht, und zwar vermöge der äußerlichsten und gleichgültigsten Mitteilungen nicht weniger als bei den intimsten.“ Zwar war Graphologie und Schriftpsychologie der Boden noch nicht vollständig entzogen – wie lange blieb der „handschriftliche Lebenslauf“ für Bewerbungen erforderlich –, aber es wurde jener Vorgang eingeleitet, an dessen Endpunkt wir jetzt stehen, wenn den Kindern beigebracht wird, zu schreiben „wie gedruckt“.

Das Wiederaufflammen der Sarrazin-Debatte hat Frank Schirrmacher noch einmal zur Stellungnahme veranlaßt, in der er Sarrazin wieder den Bezug auf Francis Galton vorwirft, weil Galton eben nicht nur mit Evolutionstheorie, Zwillingsforschung und Gesellschaftsanthropologie im allgemeinen befaßt war, sondern auch „Erfinder der Eugenik“ ist. Für Schirrmacher gehört das alles zum „Bruch mit unserem westlichen Kulturbegriff“. Worauf man nicht nur erwidern möchte, daß es eine breite „westliche“ Tradition der Eugenik gibt – von Platons Theorie über die Heiratspraxis europäischer Adliger und jüdischer Rabbinerfamilien bis zur Sterilisierung sozial Schwacher oder rassisch Mißliebiger in den USA, der Schweiz und Schweden –, sondern auch, daß jemand wie Galton vor allem als Vater der wissenschaftlichen Statistik zu nennen wäre. Und was gäbe es „westlicheres“ als das dahinter stehende Streben nach Objektivität?

„Bildung hat Habermas stets anderen überlassen; dementsprechend sehen seine Werke aus.“ (Egon Flaig)

Man kann den fehlenden Widerstand gegen die Hamburger Pläne auch damit erklären, daß im Zeitalter dauernd verfügbarer Schreib-Maschinen eine Handschrift immer weniger notwendig erscheint. Kaum genannt werden andere Erwägungen, die eine Rolle spielen dürften, etwa die fehlende Durchsetzbarkeit der notwendigen Disziplin, um ein sauberes Schriftbild zu erreichen, das den auf Selbstverwirklichung Versessenen kaum vermittelbare Zusammenspiel von Standard und Individualität. Die Bereitschaft, fehlende Kompetenz dadurch zu verbergen, daß man deren Notwendigkeit wegdefiniert, gehört zu den wichtigsten Kniffen neuerer Pädagogik, und es bieten sich auch schöne Perspektiven für die Rückkehr zu „elitärer Schriftlichkeit“ (Harald Haarmann). Gemeint ist damit nur am Rande die Neigung zum Luxus schöner Schreibwerkzeuge, sondern die Tendenz zur Analphabetisierung der vielen, die sich in den neuen Bilderwelten bestens zurechtfinden und mittlerweile nicht einmal mehr die Buchstabenkombination für einen Befehl an den Computern kennen müssen, weil ein Klick auf den Icon reicht.

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 26. August in der JF-Ausgabe 35/11.

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