© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  31-32/11 29. Juli / 05. August 2011

Der Flaneur
Zeitsprung im Bahnhof
Felix Springer

Man merkt dem Bahnhofsbau an jeder Ecke an, daß er für eine andere Zeit, für andere Menschen in der Welt steht. Die schweren Mauern werden von keiner Öffnung unterbrochen. Jeder Schritt und jedes Wort findet einen undeutlichen, langen Nachhall zwischen den steinernen Begrenzungen des Raumes, die von innen wie von außen zugleich die Begrenzungen der Wahrnehmung sind.

Als hier Stein auf Stein gepreßt wurde, konnten bewußte Zeitgenossen der Technik noch eine kalte Erhabenheit andichten, die Maschinen hatten eine unmißverständlich herrschaftliche Schnaufsprache. Die Reisenden trugen Lederkoffer mit großen Schnallen aus Metall, lösten bei einem uniformierten Schalterbeamten ihre Fahrkarte und wurden manchmal von wedelnden Taschentüchern verabschiedet.

Wo in unserer Zeit die Menschenströme täglich ihren Weg aneinander vorbei zu finden suchen, tut sich zwischen den Zeiten eine rissige Fuge auf, die auch der sonore Rhythmus von tausend synthetisch beschuhten Füßen nicht glätten kann. Heute schirmt das hohe Dach des Gebäudes keine Dampfwolke mehr ab, und über den Tresen in der alten Schalterhalle sind die Rolläden zugezogen.

Es wird schnell zu voll, und die Menschen rennen sich gegenseitig um. Auch ich beteilige mich an diesem Gedränge: Ein junger, dicker Typ mit Knollennase rempelt mich seitwärts an und wirft mir einen verhastet glasigen Blick zu, ohne ein Wort geht er weiter. „Make Love, not Babies“ steht auf seinem durch einen deutlich gewölbten Bauch arg strapazierten Hemd.

Ich habe Glück und finde einen Sitzplatz im Zug. Zentral gesteuert werden die Türen geschlossen und verriegelt, fast geräuschlos beginnt die Abfahrt. Mir gegenüber beschriften bunte Lettern die „Kinderecke“ des Regionalzugs, es sind aber keine Kinder im Abteil. Nur ein alter Mann ist beim Lesen unter dem Schriftzug eingeschlafen.

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