© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  31-32/11 29. Juli / 05. August 2011

Mordland an der Weichsel
Ein bemerkenswerter Band mit Aufsätzen und Augenzeugenberichten zur Vertreibung aus Westpreußen
Wolfgang Kaufmann

Mitte Januar 1945 setzten die Armeen der 1. und 2. Belorussischen Front unter den Marschällen Schukow und Rokossowski zum Angriff auf die deutschen Ostprovinzen an, was vor allem in Ost- und Westpreußen eine gewaltige Fluchtwelle unter der dortigen Bevölkerung auslöste. Schließlich wußte jedermann, wie die „Befreier“ im benachbarten Ostpreußen im Herbst 1944 gewütet hatten, nachdem der Wehrmacht bei Goldap vorübergehend die Wiedereroberung gelungen war. Ebenso fürchteten viele eine Wiederholung der von Polen initiierten Pogrome vom Spätsommer 1939 im Zusammenhang des „Bromberger Blutsonntags“. Während des Trecks nach Westen starben unzählige Zivilisten – sie wurden von Panzerketten zerquetscht, von Marodeuren hingemetzelt, im Rahmen abscheulicher sexueller Übergriffe zu Tode gebracht oder erfroren bei Temperaturen von unter minus 20 Grad, nachdem man sie ihrer letzten Habseligkeiten beraubt hatte. 

Den Gewaltexzessen gegenüber den Flüchtenden folgte ab März 1945 die „wilde“ Vertreibung des nicht geflohenen Drittels der Westpreußen durch polnische Milizen, welche später in eine „organisierte“ Abschiebung überging. Auch hier kam es wieder zu massenhaften Raubdelikten, Körperverletzungen und Morden, insbesondere im Zusammenhang mit Überfällen auf die vollgestopften „Evakuierungs“-Züge, bei denen die Plünderer alle niedermachten, die sich ihnen in den Weg stellten. 

Das dunkelste Kapitel dieser Epoche sind freilich die Zwangsarbeits- und Internierungslager, in die an die 100.000 Einwohner Westpreußens getrieben wurden, darunter viele Kinder. Es gab sogar ein reines Kinderlager auf dem Gelände der früheren Nervenheilanstalt Schwetz an der Weichsel! Dort verlieren sich die Spuren etlicher deutscher Minderjähriger, welche in den Schreckenstagen des Jahres 1945 absichtlich von ihren Eltern getrennt worden waren. Andere wiederum überlebten hier und in anderen Lagern die Mißhandlungen, den Hunger, mangelbedingte Krankheiten, versuchte und vollendete Vergewaltigungen und die Zwangsarbeit, zu der teilweise auch schon die Kleineren geholt wurden.

Noch berüchtigter als Schwetz war das Lager Kaltwasser in Bromberg. Augenzeugen berichten von Massenerschießungen durch polnische Milizen ab dem Februar 1945. Der Historiker Hugo Rasmus, der sich als erster an das lange ignorierte Thema der polnischen Lager heranwagte, schätzt, daß allein diesen Mordaktionen etwa 12.000 Deutsche zum Opfer gefallen sind. Eine ebenso traurige Berühmtheit erlangte das „Zentrale Arbeitslager“ im westpreußischen Potulitz, dessen über 37.000 Insassen als regelrechte Arbeitssklaven behandelt wurden. Hier starben rund 12.000 der Inhaftierten, was in diesem Falle sowohl an der gnadenlosen Ausbeutung bei gleichzeitig erniedrigender Behandlung und minimalster Verpflegung als auch am sadistischen Regime des Lagerarztes Ignacy Cedrowski lag. Laut Aussagen von Überlebenden sah dieser seine Aufgabe gegenüber den „deutschen Schweinen“ nämlich vor allem darin, dafür zu sorgen, daß sie „schneller krepieren“. Dabei war Cedrowski beileibe kein Einzelfall: Wie der Historiker Jan M. Piskorski – ansonsten ein ganz dezidierter Kritiker von Erika Steinbach und dem Projekt des Zentrums gegen Vertreibungen – 2005 feststellte, befanden sich andere polnische Lager zu dieser Zeit ebenfalls in der Hand derartiger „junger, hemmungsloser Verbrecher“. 

Häufig wird kolportiert, die flächendeckenden Vertreibungsorgien seien eine zwangsläufige Reaktion auf Hitlers Krieg im Osten gewesen, in dessen Verlauf vergleichbare Untaten begangen worden seien. Dies ist jedoch schon deshalb eine nicht ganz unproblematische These, als Pläne, die Deutschen aus Ostmitteleu-ropa zu verdrängen und ihre Siedlungsgebiete vom Reich abzutrennen, bereits viele Jahre vor Hitlers Angriff auf Polen ventiliert worden waren. So boten die Sowjets ihren polnischen Nachbarn bereits im Herbst 1923 einen Kuhhandel an: Wenn Warschau bereit sei, die bolschewistischen Machtambitionen gegenüber Deutschland zu tolerieren, so könne es sich als Gegenleistung Ostpreußen einverleiben. Hierauf und auf weitere derartige Avancen Moskaus an die Adresse Polens verweist der Berliner Historiker Jürgen W. Schmidt im ausführlichen Vorspann seines Sammelbandes „Als die Heimat zur Fremde wurde ... Flucht und Vertreibung der Deutschen aus Westpreußen“, der ansonsten vor allem dem Zweck dient, Betroffenen von Flucht, Vertreibung und Lagerhaft durch den Abdruck ihrer Erlebnisberichte eine Stimme zu geben.

Die Schilderungen der insgesamt 35 Zeitzeugen aus Westpreußen werden zudem ergänzt durch einen Beitrag von Lutz Oberdörfer über das Taktieren der Westmächte in der Vertreibungsfrage. Aus diesem geht unter anderem hervor, daß die Briten, allen voran der nunmehrige Oppositionsführer Churchill, im Sommer 1945 einen deutlichen Kurswechsel vollzogen und die Vertreibungsexzesse Warschaus heftig zu kritisieren begannen – was freilich nichts mehr an der inhumanen Durchführung der ethnischen Flurbereinigungen im neuen Polen zu ändern vermochte.

Ebenso bietet das lesenswerte Buch noch eine Analyse der bundesdeutschen Vertriebenenpolitik, welche mittlerweile zu einer bloßen Verdrängungspolitik verkommen ist. Hier schließt der Autor Matthias Stickler mit der Wiedergabe folgender These des Osteuropahistorikers Karl Schlögel: „Die ‘Normalgesellschaft’ schuldet den Vertriebenen etwas. Sie schuldet denen, die mit Heimatverlust gezahlt haben, wenigstens die Pflege ihrer Erinnerung, die Arbeit am kulturellen Erbe und Gedächtnis.“ Angesichts von etwa 15 Millionen Betroffenen ist dem nichts hinzuzufügen – außer vielleicht der Hinweis, daß der Herausgeber des Bandes, welcher sich genau dieser Verpflichtung gestellt und damit eine ziemliche Sisyphusarbeit auf sich genommen hat, zur Gruppe der Historiker zählt, welche von dem Privileg ausgeschlossen sind, irgendwie von Staats wegen gefördert oder besoldet zu werden.

Jürgen Schmidt, Lutz Oberdörfer, Matthias Stickler: Als die Heimat zur Fremde wurde ... Flucht und Vertreibung der Deutschen aus Westpreußen. Köster Verlag, Berlin 2011, broschiert, 470 Seiten, 28 Euro

Foto: Zusammengeschossener Flüchtlingstreck, Rückkehr deutscher Kinder aus polnischem Gewahrsam 1945:  „Junge, hemmungslose Verbrecher“

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