© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  31-32/11 29. Juli / 05. August 2011

Pankraz,
Gott Jupiter und der Jesusverschnitt

Quod licet Jovi, non licet bovi. Was dem Jupiter erlaubt ist, ist dem Ochsen noch lange nicht erlaubt. Oder, auf die Literatur bezogen: Was sich ein berühmter Autor leisten darf, darf sich ein  schlichter Debütant noch lange nicht leisten. Ein Manuskript, das einem berühmten Autor buchstäblich aus der Hand gerissen würde, wird einem Debütanten möglicherweise von jedem Verlag zurückgeschickt, auch wenn es Komma für Komma genau das gleiche ist.

Jüngstes Beispiel: Der neue Roman von Martin Walser, „Muttersohn“, der von sämtlichen Großkritikern – noch vor seinem Erscheinen, wie heute üblich – zum absoluten Großereignis der Saison hochgejubelt wurde, meistens in reinsten Lobestönen. „Niemand schreibt so schwerelos über die ersten und letzten Fragen unserer Existenz wie Martin Walser“, säuselte etwa Literaturen, „ein Liebesevangelium (…) Ein abgründiges, kraftvolles, struppiges Lebens-, Liebes- und Glaubensbuch“. 

Pankraz wagt das Urteil: Hätte ein Debütant jenes zwar schwerelose, aber struppige Riesenopus eingesandt, er wäre überall abgeblitzt, vielleicht sogar mit dem Ratschlag, er solle doch zunächst einmal einen Lehrgang für kreatives Schreiben besuchen. Es kommt dabei gar nicht auf die Qualität des Textes an, sondern einzig auf die Adresse des Absenders. Dieser muß nicht nur „prominent“ sein, er muß auch und vor allem „umstritten“ sein, in seiner Vita und in seinem Werk vielfältig schillernd, ein Monster und ein Chamäleon dazu.

Ein Autor wie Walser erfüllt diese Bedingungen auf optimale Weise. Er ist mittlerweile hochbetagt, in ehrwürdigem Alter, und hält sich blendend. Er hat in seinem Leben eine Menge Kapriolen absolviert, darunter auch haarsträubende, er hat Mut, feine Bildung, aber auch ein gerüttelt Maß medienpolitischer Schlauheit bewiesen, man kennt seine Eigenheiten und Macken, die Kritiker können nachprüfen, vergleichen, abschmecken.

So groß ist inzwischen sein Einfluß auf das kulturelle Leben, daß er sich herausnehmen kann, den Kritikern regelrecht eine Nase zu drehen und ihnen unverblümt mitzuteilen, was er absichtlich nicht macht, obwohl der literarische Kanon und sogar die Rücksicht auf guten Stil es eigentlich nahelegen.  Der Mann hat eben höchsten branchenspezifischen Unterhaltungswert, und wo gibt es schon sichere Kriterien für guten Stil und präzise Kompositionskraft?

Trotzdem möchte Pankraz aus seinem Herzen keine Mördergrube machen und bekennt hier offen: Ihm gefällt der Roman „Muttersohn“ nicht, auch nicht passagenweise, so daß man das eine Kapitel gegen das andere aufwiegen könnte. Angeblich handelt es sich, nach Auskunft des Verlages und der Vorkritiker, um eine „altersweise“ Suche nach dem rechten Glauben in unserer modernen Zeit, doch das Ganze ist eindeutig mißlungen, monumental verquatscht, und spiegelt weder die Zeit noch die im Inneren des Autors vorgehenden Glaubenskämpfe wider.

Man liest von einem Krankenpfleger namens Percy, der als eine Art Jesusverschnitt durch die Seiten geistert. Er ist (ohne daß erklärt wird, wie genau es passiert ist) ohne die Mitwirkung eines irdischen Vaters, also durch „unbefleckte Empfängnis“ auf diese Welt gekommen und arbeitet vorzugsweise in einer oberschwäbischen Irrenanstalt, welche in einem alten Kloster untergebracht ist. Irrenärzte und Theologen, Patienten und gewöhnliche Gemeindemitglieder sind kaum voneinander zu unterscheiden, und der Chef der Klapsmühle, Prof. Dr. Dr., landet zuletzt als Patient in seiner eigenen Anstalt.

Percy selbst spricht weder in Zungen noch in Gleichnissen, sondern gibt nur trostloseste Redensarten von sich – oder er schweigt und verordnet den Patienten eine „Schlafsacktherapie“, was für diese zweifellos noch das Beste ist. Percys Botschaft erschöpft sich in der Feststellung „Ich glaube, also bin ich“. Der Kreuzestod, den er am Ende erleidet, wird ihm vom Häuptling einer Motorradgang zugefügt, der ihn höchst uncharmant in den oberschwäbischen Schnee stößt. Da liegt er dann mit ausgebreiteten Armen, um die Travestie des Christentums komplett zu machen.

Zum Schluß gibt es noch eine Apotheose, die wie eine Travestie auf das Pfingstwunder aus der Bibel wirkt: Sämtliche Gemeindemitglieder bzw. Patienten finden ihr Glaubensglück und ihre Erlösung im Chorgesang. Erst singen nur einige von Percys hinterbliebenen Aposteln, dann singen auch diejenigen, die an sich nur dazugestoßen sind, um die Apostel singen zu hören, am Ende vereinigt sich ganz Oberschwaben zu einem einzigen machtvollen Dankchoral, so daß sämtliche Wände wackeln.

Nicht das Wort steht bei Walser am Anfang und am Ende, sondern die Musik, und das ist immerhin eine verstehbare, aufhebbare und gar nicht unsympathische Aussage. Fast wird man dadurch mit dem Buch versöhnt, das einem vorher fünfhundert Seiten lang mit einem wahren Übermaß an Worten (vulgo: mit Geschwätz) auf die Nerven gegangen ist. Übrigens stammt dieses Geschwätz nicht allein von Walser selbst, sondern über weite Strecken von dem schwedischen Pseudo-Mystiker des 18. Jahrhunderts Emanuel Swedenborg, der von Walser in ausführlichster, seitenfüllender  Weise zitiert wird.

Dieser Swedenborg war wirklich ein Schwätzer ohnegleichen, ein „Geisterseher“, wie er sich selber nannte, der vor seinem inneren Auge überall Engel herumschwirren sah und sie in vielen Foliobänden auf Papier und unter die Leute brachte. Kant hat ihm seinerzeit einen vergnüglichen Traktat gewidmet, an dessen Ende er den Mann als einen „Candidaten des Hospitals“ abfertigte und Lesern riet, in Sachen Geisterseher „sich allen weiteren Nachforschens zu entheben“.

Ganz so schlimm steht es mit dem neuen Walser-Buch nicht. Man erfährt bei der Lektüre jedenfalls, daß ein literarischer Jupiter sich eine Menge herausnehmen kann, ohne auf die Regeln oder allgemeinen Überzeugungen der Ästhetik Rücksicht nehmen zu müssen. Als Lehrbuch in einem Kurs für kreatives Schreiben taugt „Muttersohn“ nicht.

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