© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  31-32/11 29. Juli / 05. August 2011

Frust über verfehlte Lebensziele
Integration: Laut einer Studie steigt bei türkischen Einwanderern mit der Annäherung an die deutsche Kultur das Gefühl der Diskriminierung
Lion Edler

Ein knappes Jahr ist es her, seit Thilo Sarrazin mit seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“ eine monatelange Debatte um die Integrationspolitik auslöste. Kein Wunder also, daß die nun veröffentlichte großangelegte Studie der Stiftung Zentrum für Türkeistudien über die Stimmung unter den türkischen Einwanderern im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen ausführlich auf die Debatte eingeht.

In den Vordergrund stellten die Autoren der Studie, die im Auftrag des nordrhein-westfälischen Integrationsministeriums erarbeitet wurde, besonders die Ergebnisse zu der von den Zuwanderern empfundenen Diskriminierung: danach hätten bereits 81 Prozent der telefonisch befragten 1.000 Zuwanderer aus der Türkei im Alltag  „Diskriminierungserfahrungen“ aufgrund ihrer Herkunft machen müssen. Das ist der höchste Wert seit der erstmaligen Erfassung dieser Erfahrungen im Jahr 1999. Ab 2005 nahm der Wert zunächst kontinuierlich ab und sank 2009 auf einen Tiefststand von 67 Prozent. Allerdings geben auch die Autoren der Studie zu bedenken, es könne „hier nicht beantwortet werden“, ob es sich bei diesen Zahlen um eine „geänderte Sensibilisierung oder Empfindlichkeit der Migranten handelt oder um einen Wandel der tatsächlichen Ungleichbehandlung“. Schließlich stellten die Zuwanderer der Nachfolgegeneration auch  „andere Ansprüche an die Akzeptanz und Toleranz gegenüber ihrer Kultur“. Die erste Zuwanderer-Generation habe geglaubt, nur vorübergehend in der Fremde zu leben. So mache die Verinnerlichung von Gleichheitsgrundsätzen und die partielle Annäherung an die deutsche Kultur die zweite und dritte Zuwanderer-Generation möglicherweise gegenüber Diskriminierung sensibler. Meistens sitze hier „die Frustration über ungleiche Behandlung und nicht erreichte Lebensziele tiefer“.

Allerdings könne man an den Zahlen „sehr deutlich“ die Schwankungen des allgemeinen Klimas und der politischen Debatten zum Thema ablesen. Der hohe Wert der „Diskriminierungswahrnehmung“ im vergangenen Jahr sei daher sicher auch das Resultat der Sarrazin-Debatte. Hierbei sei in den Medien muslimischen Zuwanderern generell die Integrationsfähigkeit und -willigkeit abgesprochen worden. Weiterhin seien sie „als minderintelligent und als Sozialschmarotzer diskreditiert“ worden. Die Debatte habe sich in den Köpfen der Zuwanderer festgesetzt und verstöre die persönliche Orientierung.

Männliche türkische Zuwanderer klagen nach der Studie häufiger über Diskriminierungen als weibliche (84,9 Prozent beziehungsweise 76,1 Prozent), jüngere Zuwanderer häufiger als ältere (88,4 Prozent der unter 30jährigen gegenüber 63,6 Prozent der 60jährigen und älteren). Am meisten diskriminiert (60,3 Prozent) fühlten sich die Befragten am Arbeitsplatz in der Schule beziehungsweise an der Universität. Am unteren Ende der Tabelle befinden sich Diskotheken, Gerichte, Gaststätten und Vereine (jeweils unter 20 Prozent).

95 Prozent der türkischstämmigen Einwanderer haben laut Studie Kontakte zu Deutschen, 40 Prozent gar enge freundschaftliche Beziehungen. Nur zwei Prozent sind auf eigenen Wunsch ohne Kontakte zu Deutschen. Dies zeige, „daß von bewußter Segregation nur in Ausnahmefällen gesprochen werden kann“, sagte dazu der NRW-Integrationsminister Guntram Schneider (SPD).

Schneiders Partei scheint indessen bei den Befragten für die Sarrazin-Debatte abgestraft zu werden. Zwar sank die Parteienpräferenz für die SPD nur leicht von rund 40 Prozent im Jahr 2009 auf 37 Prozent. Weitere 20,1 Prozent der Zuwanderer neigen den Grünen zu, 3,8 Prozent der CDU und 0,4 Prozent der FDP. Auf die Linkspartei entfallen 5,7 Prozent, weitere 22,5 Prozent sind unentschlossen und zehn Prozent wollen nicht wählen gehen. Bei den wahlberechtigten, also bereits eingebürgerten Zuwanderern, entfallen gar 52 Prozent auf die SPD und 29 Prozent auf die Grünen, das schwarz-gelbe Lager sieht hier mit sechs Prozent für die CDU und einem Prozent für die FDP ebenfalls schwach aus.

Vielleicht aber finden viele Zuwanderer Sarrazins Themensetzungen gar nicht so falsch, wie ein Kapitel der Studie über politische Problemwahrnehmung zeigt. Danach messen zwar 92,5 Prozent der Befragten dem Problem der Ausländerfeindlichkeit eine hohe Bedeutung zu, es landet jedoch nur auf Platz fünf. Davor rangiert unter anderem die Jugendkriminalität auf Platz drei mit 93,4 Prozent, die dieses Problem als wichtig ansehen. An der Spitze befinden sich die Arbeitslosigkeit (97,8 Prozent) und die „Verbesserung der Bildungschancen“ (94,2 Prozent).

Die Studie kann im Internet abgerufen werden  www.zfti.de

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